: „Ich bin schon immer ein Einsiedler gewesen“
Philip Gröning kommt gerade aus Portugal, heute ist er in Berlin, morgen in München. Das Handy klingelt, die Schweiz ist dran. Es wird hektisch - ausgerechnet jetzt, wo wir uns über Stille unterhalten wollen. Denn Gröning kennt sich damit aus. Sein Film „Die große Stille“ ist ein Porträt über den Schweigeorden der Kartäuser im Mutterkloster Grande Chartreuse. 2006 räumte er dafür die Preise ab. Zu Recht. Nie war Stille und Spiritualität radikaler zu sehen INTERVIEW: ROLF LAUTENSCHLÄGER
Philip Gröning: Der Filmregisseur wurde 1959 in Düsseldorf geboren. Heute lebt und arbeitet er in Berlin und Düsseldorf.
Hauptwerk: „Sommer“ (1986), „Die Terroristen“ (1992), „Lamour“ (2000) und „Die große Stille“ (2005). Dafür erhielt Gröning 2006 den Europäischen Filmpreis.
“Die große Stille“: Vor mehr als zehn Jahren hatte Gröning bei den Kartäusern nachgefragt, filmen zu dürfen. Später vielleicht, lautete die Antwort. Dann kam 2003/2004 die Erlaubnis und die Bedingung, während der Drehzeiten im Kloster zu leben. Gröning willigte ein.
Nächster Film: In Vorbereitung ist „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“.
Sonstiges: Ganz wichtig, die Tafel (kleines Foto oben) ist Grönings „Gedächtnis“ und Arbeitsgrundlage für den Filmschnitt.
taz: Herr Gröning, geht es Ihnen auch so wie mir, wenn Sie an Weihnachten denken? Die erste Assoziation ist Stress, Lärm und Anstrengung und keineswegs Stille, Ruhe oder Besinnlichkeit.
Philip Gröning: Stimmt. Weihnachten, speziell die Vorweihnachtszeit, erlebe ich als ziemlichen Trubel. Der ganze Rummel ums Einkaufen ist eine Art Terror. Man gewinnt den Eindruck, sobald die Weihnachtslichter angeknipst werden, entstehen in Berlin Verkehrsstaus, weil alle auf dem Weg in die Kaufhäuser und Läden sind. Ich selbst bin mit Geschenken auch immer extrem spät dran. Zu Dussmann renne ich jedes Jahr fünf Minuten vor Weihnachten, egal wie proppenvoll es dort ist.
Und, macht das Spaß?
Das ist natürlich ein Horror.
Trotzdem: Welche Bedeutung hat diese Zeit für Sie?
Ursprünglich hat Weihnachten eine familiäre Bedeutung für mich. Heute schaue ich darauf, mit welchen Menschen und Freunden ich wirklich etwas zu tun haben will. Das „Fest der Liebe“ zielt doch auf die Frage ab: Wo sind die eigentlichen Beziehungen? Wo stehe ich selber? Das beschäftigt mich.
Ist die Zeit zwischen den Jahren für Sie eher ein Time-out?
Die Zeit finde ich natürlich super! Außer mir arbeitet wahrscheinlich niemand, ich kann schreiben und an meinen Projekten arbeiten. Es kommen endlich mal nicht dauernd Nachrichten, Störungen, die Firma und Lärm dazwischen. Die Zeit ist wirklich schön. Es ist die Zeit für einen Rückzug, für Konzentration und kreative Arbeit. Als Regisseur ist man immer in Gefahr, dass diese kreative Arbeit erdrückt wird.
Sie hätten also gern mehr davon?
Ja. Es ist für mich und meine Arbeit ganz wesentlich, den Kontakt zu dem zu halten, was man eigentlich will, was man eigentlich sucht und wessen Kriterien einem wichtig sind.
Was meinen Sie, warum nehmen wir uns nicht mehr Raum für Stille, für Ruhe und für Konzentration?
Weil es anstrengend ist. Es ist viel einfacher, schnell noch mal nach der Steuererklärung, dem Finanzierungsplan oder den Drehorten zu gucken, als der Frage nachzugehen: Was mach ich eigentlich? Und es bedeutet Machtverlust, weil ein Time-out nicht unbedingt operative Arbeit, sondern eher erst einmal Leere beinhaltet. Da wird es dann für viele gefährlich, es wird existenziell, und stattdessen stürzt man sich lieber in diese Ablenkungsmaschinerie.
Ihr Filmporträt „Die große Stille“ über die Kartäusermönche und die Atmosphäre im Mutterkloster Grande Chartreuse bei Grenoble erzählt ja vom Leben jenseits aller Ablenkungsmaschinerien. Die Kartäuser sind ein Schweigeorden, die Mönche leben die meiste Zeit allein in ihren Zellen, beten, meditieren, essen und arbeiten dort. Nur zu den Andachten treffen sie sich. Es liegt eine unglaubliche Konzentration und Stille über dem Ort und der Natur. Für die Dreharbeiten sind Sie monatelang quasi zum Klosterbruder geworden. Wie haben Sie den Wechsel von unserer Welt in die dortige erlebt? Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag?
Ich kam im Kloster mit sehr viel Filmtechnik an, dann wurde ein Schneideraum in einem Außenbereich eingerichtet, und schließlich führte man mich in meine Klosterzelle, in der ich wohnen sollte. Im ersten Moment bin ich vor dieser unglaublichen Perfektion, mit der die Mönche diesen Raum hergerichtet hatten, erschrocken. Es war wie ein Schock, denn die Zelle war wunderschön hergerichtet: Das Besteck lag hier, die Serviette dort, der Stuhl da und der Tisch, das Bett et cetera. Aber ich konnte hier erst nicht einziehen, weil ich das sozusagen nicht entheiligen oder verwohnen wollte. Darum schlief ich zwei Nächte in einem Gästezimmer. Ich brauchte das quasi als Zwischenraum, dann hatte ich die innere Schwelle geschafft und konnte richtig eintauchen.
Hat Ihnen die plötzliche Stille um Sie herum nicht Angst gemacht?
Es ist genau das passiert, was ich vorhin meinte: Es ist anfangs schwer, eine Stille und Ruhe zu ertragen und sich darauf einzulassen, weil dies unendlich viel mehr Beschäftigung und Auseinandersetzung mit sich selbst verlangt. Zu Beginn im Kloster empfand ich manchmal eine Traurigkeit, hatte Leeregefühle oder fragte mich: Bin ich dem hier überhaupt gewachsen? Ich war extrem müde - nach all dem Stress bei der Vorbereitung für den Film. Wissen Sie, der ganze Ort und diese Atmosphäre waren so, wie ich es mir erträumt hatte. Es war fantastisch, die Mönche über den Lauf eines ganzen Jahres Tag und Nacht in ihrem Kloster, in den Zellen, ihren Gärten, auf dem Kreuzgang, bei dem Gebet begleiten zu können. Nun war ich hier und konnte mich auf die Arbeit konzentrieren. Aber es fiel mir die ersten Tage nichts ein. Meine bisherigen Muster, Filme zu machen, zerbrachen.
War die Stille brüllend?
Sie war jedenfalls extrem beherrschend. Jedes Geräusch beispielsweise, das man selbst machte, kam einem wahnsinnig laut vor und tat fast weh. Man ist versucht, kein Geräusch zu machen - was nicht funktioniert. Aber dies alles wurde weniger, als ich mit dem Filmen begonnen hatte. Ich habe einen Rhythmus gefunden, die Stille wurde immer heimeliger und empfangender. Die Stille verändert die Wahrnehmung. Dinge werden plötzlich viel präsenter.
Aber haben Sie nicht auch die Stille dort gestört - etwa als Sie die Mönche in deren Zellen filmten, sie ganz nah und intim für die Porträts fotografierten?
Nein. Für die Mönche, die sonst von niemandem in ihrer Zelle besucht werden, ist das zwar eine maximale Störung gewesen. Aber wenn Sie sich die Porträts der Menschen und ihrer räumlichen Umgebung genau anschauen, dann sehen Sie wirkliche Still-Leben und die Idee einer wirklichen Begrenzung. Alles Äußere und Äußerliche fällt ab. Dies haben die Mönche gesehen und respektiert, darum durfte ich so nahe Porträts auch machen.
Wollten Sie da nicht auch mal raus?
Sicher. Und ich hab mir auch tausend Gründe gesucht, mal abzuhauen. Was ich aber nicht getan habe. Denn die Situation des Eingeschlossenseins kannst du nur aushalten, indem du dich ihr aussetzt. Erst dann öffnen sich die Dinge, die Geräusche erhalten einen schönen Klang, scheinbar Banales kriegt Bedeutung.
Wie haben die Mönche auf Ihre Arbeit noch reagiert?
Ich bin auf eine unglaubliche Akzeptanz gestoßen. Das Erstaunlichste war, wie stark und mit sich selbst identische Menschen diese Mönche sind. Das sind Menschen, die keine Angst haben. Denen hat diese radikale Lebensform von Zeit und Raum eine ungeheure Festigkeit und Individualität auf der einen Seite sowie eine Solidarität und letztlich den gemeinsamen tiefen Glauben und das Vertrauen in Gott auf der anderen Seite gegeben.
Als Sie die Dreharbeiten zu dem Film nach rund einem Jahr abgeschlossen hatten und wieder im „Diesseits“ ankamen, hat Sie der Lärm und alles Drumherum nicht schrecklich genervt?
Ich habe mir für die Rückkehr aus der Stille eine Woche Zeit gelassen. Was mich zum Teil schockierte, war der Angstpegel. Wenn man aus dem Kloster kommt, gleicht die Schnäppchenabteilung bei Karstadt am Hermannplatz einer kontrollierten Panikstation voller angstgesteuerter Handlungen. Das kommt einem wie irre vor. Die Erfahrung des Klosters bringt auch mit sich, dass man hinter dem heutigen Konsumwahn einen gravierenden Sinnverlust wahrnimmt, der sich regelrecht als Angst ausdrückt, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein - mit der Folge, dass man sich mit dem Allerneuesten permanent zuschüttet.
Wie hat Sie jene Klosterzeit bis heute geprägt?
Ich habe bis jetzt einen engen Kontakt zu den Mönchen. Wir haben uns nach den Dreharbeiten viel geschrieben, und ich habe die Mönche besucht. Sie freuen sich, dass der Film so erfolgreich ist. Geblieben ist auch eine sehr große Bewunderung dieses Lebensentwurfs, der bei mir nachwirkt. Wissen Sie, ich bin als Mensch und Künstler schon immer ein gewisser Einzelgänger, ja „Einsiedler“ gewesen, der natürlich auf unsere Gemeinschaft angewiesen ist. Mich hat diese Balance im Kloster zwischen Einsiedlerdasein und großer Gemeinschaft, Individualität und Aufgehobenheit fasziniert - auf eine Art, als habe ich meine zweite Heimat gefunden.
Ist „Die große Stille“, auch weil es ein Dokumentarfilm ist, ein Paradigmenwechsel in Ihrer Arbeit gewesen? Ihre vorherigen Filme, etwa „Die Terroristen“, sind laut, schnell und sehr diesseitig.
Mich interessiert nicht, einen lauten oder leisen Film, sondern immer einen ganz anderen Film zu machen. Die Filme sollen sich radikal unterscheiden, weil ich als Regisseur die verschiedenen Themen als verschiedene Zugänge zu unterschiedlichen Welten darstellen möchte.
Aber gibt es nicht doch einen sogenannten roten Faden durch alle Ihre Filme? Die Politclowns in dem Film „Die Terroristen“, die wahnsinnige Liebe in „Largent, lamour, largent“ und jetzt die großen Schweiger in der Klosterstille - das sind doch quasi alles Radikale.
Das stimmt, das Radikale außerhalb unserer üblichen Wirklichkeit ist mein Thema. Ich glaube, die extremen Schichten bieten bessere Ausdrucksmöglichkeiten für innere Zustände und neue Welten. Das zu erzählen ist mir wichtig. Der Zuschauer soll bei meinen Geschichten und Protagonisten andere Wahrnehmungsformen als die seinen kennenlernen. „Die große Stille“ beispielsweise ist für mich ein Film über die radikalste Öffnung als Mensch oder auch die radikalste Infragestellung unseres Daseins. Gerade weil der Film - inhaltlich wie formal - so im Eingeschlossenen spielt, ist es ein Film über eine radikale und große Öffnung.
Als Dokumentarfilm kann „Die große Stille“ einen außergewöhnlichen Erfolg verbuchen: Er hat neben den vielen Auszeichnungen ein großes Publikum im Kino gehabt. Er ist derzeit der wohl erfolgreichste Dokumentarfilm. Liegt das an der sogenannten neuen Sinnsuche, an der Hinwendung zu mehr Religiosität oder dem Glauben?
Es gibt sicher ein Bedürfnis nach innerer Ordnung, eine Suche nach Räumen oder Zuständen für ein Mehr an Spiritualität, Innerlichkeit und Ruhe. Ich denke, die Zerstreuungsindustrie und die Betonung des rein Materiellen haben sich auf eine nicht mehr zu überbietende Weise desavouiert. Ich glaube, man hat einfach keine Lust mehr, dieser Maschinerie hinterherzuhecheln. So entsteht ein fundamentales Bedürfnis, mit sich und auch mit dem, was ich als innere Leere bezeichnen würde, in Kontakt zu treten. Zugleich wird es natürlich immer Menschen geben, die sich auf diesen Raum nicht einlassen. Es wird immer beides geben. Das ganz Laute, Vollgestopfte und das Leise, Leere. Und das ist in gewisser Weise auch beruhigend.