piwik no script img

Archiv-Artikel

Wird es spannend, fällt der Strom aus

DOKUMENTARFILM Fast wäre Abchasien ein Paradies auf Erden, aber leider liegt vieles im Argen. Eine Reise durch ein vergessenes Land im Osten unternehmen Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski mit „Domino Effekt“

Der komplexe soziale und politische Zustand spiegelt sich in den Biografien der Bewohner

VON BARBARA WURM

Vorwärtsrolle, Hände um die Knie, Fliegerposition. Eigentlich kein wahnsinnig komplexer motorischer Akt, aber hier: welch miserable Ausführung! Vor den Augen des Sportministers stellen die jungen Turner hölzern und obendrein schlaff ihre Untauglichkeit unter Beweis. Grotesk und tragikomisch ist das.

Rafael nämlich, der vom Fußballtrainer bis zum Organisator der Domino-Weltmeisterschaften für die sportiven Angelegenheiten Abchasiens zuständig ist, kämpfte früher für die Unabhängigkeit seines Landes, als Panzerkommandant, der bei einem Einsatz – wie man aus dem behutsam eingeflochtenen, mit 25. 7. 1993 datierten Footage erahnen kann – zwei eigene Leute in den Tod geschickt hat. Die Schuldgefühle gehen nicht weg. Heute lebt er in einem Land, wo im Stadion mehr Spieler zu finden sind als Zuschauer auf den Rängen, wo man eine Domino-WM als einziges Fenster zur Welt imaginiert (die enthusiastisch-folkloristischen Proben – groß!).

Sinnbild einer Nation

Wo sich unter den Rost der postsowjetischen Strandidylle auch der Anblick ausgebombter Ruinen mischt. Wo immer dann, wenn es spannend wird, der Strom ausfällt. Und wo die körperliche Schwäche und Unmotiviertheit der Jugend zum Sinnbild einer Nation geworden ist, die stecken und liegen geblieben ist im geopolitischen Spiel anderer. „Es gibt einen Ort, der ein Paradies auf Erden sein könnte, doch gibt es dort mehr Feldminen als Menschen.“

Dieser Satz aus den Reportagen von Ryszard Kapuscinski habe sie auf die Idee gebracht, so Elwira Niewiera, den Staat mit dem unklaren Status – zwischen abtrünniger georgischer Republik und von Russland abhängiger „Enklave“ – zu bereisen. Jetzt, da „Domino Effekt“, seit knapp einem Jahr auf den Dokumentarfilmfestivals reüssierend, endlich ins Kino kommt, ist klar, dass ihr gemeinsam mit Kameramann und Koregisseur Piotr Rosolowski ein kleiner Genre-Coup gelungen ist.

Wie sich hier der komplexe soziale, historische und politische Zustand eines auf der Weltkarte vergessenen Fleckens in den Biografien seiner Bewohner spiegelt, wie beispielsweise plötzlich „Ehre“ über „Liebe“ gestellt wird, wenn es darum geht, das abchasische vom russischen Wertesystem abzugrenzen, wie das Dominospielen zum Rettungsanker eines sich in Geduld übenden Lebens hinter dichtgemachten Grenzen oder mit touristischer Inbrunst die Vorgeschichte des „Platzes der Freiheit“ bis zu den Griechen und Römern zurückgeführt wird, das sieht man heute im Format-Kit bestehend aus „Weltspiegel“, Betroffenheitsreportage und um die Figur des Regisseurs herum gebauten persönlich gehaltenen Dokumentarfilmen selten. Es habe nach Glück gerochen, als sie kam, sagt Natascha, jene russische Opernsängerin, die für den etliche Jahre älteren Rafael Job, Mann und (partiell) Kind aufgegeben hat, um ihren (leicht sowjetisch angehauchten) Traum von Sochumi, der Hauptstadt, zu leben. Sie sagt das in ihrer trocken romantischen Art, die beim Umschlag in die Phase des Fremd- und Alleinseins abklingt. „Domino Effekt“ hat intime Momente und dramatische Szenen, handelt von interkultureller Liebe und gelebter absurder Realität. Und ist deshalb traurig.

■ „Domino“. Regie: Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski. Polen/Deutschland 2014, 76 Min.