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Letzte Leipziger Montags-Demo Trauriger Abgesang einer Legende

■ Die Heldenstadt im Einheitsrausch - „Sind wir am Ziel?“ / Polittourismus zur Messezeit

Leipzig (adn/dpa/taz) - Die Montagsdemonstrationen gibt es nicht mehr. Sie beendeten am vergangenen Montag ihren wechselvollen Weg durch die Geschicke dieser Tage. Es kamen nochmals Tausende Leipziger, um sich von dem Ereignis zu verabschieden, das ihre Stadt über die Grenzen des Landes hinaus bekannt gemacht hat. Auffällig die zahlreichen Gäste aus aller Welt, die ihren Messebesuch nutzten, mit eigenen Augen das „Zentrum der deutschen Revolution“ zu beobachten. Die Demo ist ein Medienereignis, von Kameras abgelichtet und per Satellit in alle Richtungen verbreitet. TV-Teams sind ständig auf der Jagd nach den Hauptdarstellern und Höhepunkten der Polit-Show.

Die große Sinnkrise dieser Demo freilich konnte auch die letzte Veranstaltung nicht vertuschen. Während sich vorne, auf dem Balkon des Opernhauses Initiatoren der Herbstereignisse mühten, an die demokratischen und humanistischen Wurzeln des heutigen Spektakels zu erinnern, gab sich das Demo-Volk längst seinen Vergnügungen hin. Am Mikrofon stand nochmals der Theologe Dr. Peter Zimmermann. Er ist einer der „sechs von Leipzig“, die am 9. Oktober mit Mut und Zivilcourage für eine friedliche Zukunft der Demo eintraten. „Sind wir am Ziel?“, fragte er sich und es konnte gar nicht sein, daß er eine positive Antwort findet. Am 9. Oktober wirkte die große Kraft der Koalition von Christen, Humanisten und Marxisten. Diese Idee zu bewahren, war Zimmermanns Wunsch. Die Erfüllung einer der letzten Forderungen des Herbstes bliesen der Demo schließlich das Lebenslicht aus. Nach den freien Wahlen vom 18. März soll Feierabend sein.

Am Mikrofon auch Superintendent Friedrich Magirius. Der Pfarrer der Nikolaikirche erinnert an die „Friedensgebete“, die Vorreiter der Montagsdemo. Den deutschen Einheitstaumel zu besänftigen, erinnert er auch an die europäischen Vorläufer der DDR-Wende. An Solidarnosc und Gorbi, an Charta 77. Pfarrer Magirius appellierte an die Leipziger, das gemeinsam Begonnene auch gemeinsam fortzusetzen. An die Achtung der Andersdenkenden zu appellieren, schien ihm gerade mit Blick auf die Demos der letzten Wochen besonders wichtig. Schließlich endeten die zur Legende gewordenen Demos mit einem Lied aus der Anfangszeit: „We shall overcome“.

Da taten dann die Widersprüche weh. Oben wurde gesungen, unten, in der Menge nicht. „Wahrscheinlich kennen die vorne gar nicht den Text“, sagt einer mit DDR-Fahne. Die Mädchen und Jungen aus der linken Szene sind zur Randgruppe geworden. Wieder geworden. Vor der Wende von der Polizei gejagt, wurden sie später von rechtsradikalen Demonstranten gehetzt. Die Anhänger von NPD, „Republikanern“ und „Jungen Nationaldemokraten“ bestimmten auch am letzten Montag die Kundgebung. Ihre Parolen brüllen sie freudig in die entgegengestreckten Mikrofone und Kameras.

Manche Bürger sind empört, daß diese Gruppen den demokratischen Geist der Demo besudeln. Daß die Brüller im Zug durch die Stadt mitmarschieren, stört jedoch keinen. So tönt wieder „Rot Front verrecke!“ und „Ausländer raus!“ durch Leipzigs Abend. Ausschreitungen gibt es keine.

An dem Platz, der immer noch Karl Marx heißt, werben weiter Parteien um die Gunst ihrer Wähler. Zehnjährige Jungs verteilen DSU-Zettel, die ihnen in die Hand gedrückt werden. Die berühmte Litfaßsäule, einst Ort demokratischer Meinungsvielfalt, ist rundum mit Kohl-Plakaten beklebt. Schallplatten und Kassetten mit des Bundeskanzlers historischen Reden werden unters Volk geworfen. Ein Recorder spielt endlos Heino mit dem Deutschland-Lied. Die Allianz -Bürger üben schon mal mit. Am Rande blüht das Geschäft. Aufkleber, Würstchen, Fahnen, Schnaps. Die Demo ist zum Polit-Jahrmarkt geworden. So standen wohl nur jene abseits des Geschehens, die einst mit Angst, Hoffnung und Risiko dieser Demo Leben einhauchten. Sie blicken traurig in die Menge und sehen schon voraus: in eine Zukunft, die schon Geschichte ist. Auf einem Handzettel der Linken liest man: „Das vollständige Programm erfahren Sie nach der Wahl. Wir danken für die Übergabe der MfS-Akten. Ihr Bundesnachrichtendienst“.

Hagen Boßdorf

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