: Aus Freude am Lügen
■ Edgar Reitz und Sten Nadolny plauderten auf der Gegenbühne über das Erzählen
über das Erzählen
Kurzatmigkeit geht um, Leute sitzen nicht mehr plaudernd um den Küchentisch herum, sondern vor flimmernden Ersatzöfen, zwischen dessen bunten Programmen ungeduldig herumgezappt wird - ist das die Zukunft der Erzählkunst in der Mediengesellschaft? „Haben wir in unserer Zeit ohne Zeit noch Augen und Ohren zum Zuschauen und Zuhören?“ fragte Kultursenatorin Christina Weiss am Mittwoch das Publikum der Gegenbühne 2, dem von der Kulturbehörde initiierten Podium für kulturelle Diskussionen, diesmal im Schauspielhaus.
Zwei Erzähler, der Filmemacher Edgar Reitz und der Schriftsteller Sten Nadolny (Die Entdeckung der Langsamkeit), schickten sich an, am kleinen Tischchen über Die Zukunft des langen Atems zu debattieren. Erzählen und Fiktion, Erzählen und Zeit, Zeit und Leben, und die Frage nach der Bedeutung des Erzählens in der Gesellschaft, versuchte Nadolny das Thema des Abends abzustecken, an dessen Ende auch die Frage „Was soll eigentlich langer Atem sein?“ ausgeleuchtet sein sollte. „Wir sind die Langsamkeitsonkels“, stellte Nadolny sich und seinen Wahlverwandten Reitz vor. „Was wir hier unternehmen ist Glücksache“, ergänzte Reitz, der auch als Erzähler nie auf das Ende schiele, wenn er mit einer Geschichte beginne.
Langen Atem hatten am vergangenen Wochenende etwa 500 Menschen bewiesen, die im Schauspielhaus über vier Tage das 26-Stundenepos Die Zweite Heimat von Edgar Reitz gesehen hatten. Unter ihnen auch Christina Weiss, die bekannte, in der Zweiten Heimat Szenen aus ihrer eigenen Studienzeit, als „das Erzählen völlig out“ war, wiedergefunden zu haben. „Eine Tragödie“ nannte Reitz, wie die
1Protagonisten seines Films, Leute, die in der Aufbruchsstimmung der Münchner Boheme der 60er Jahre „große Pläne und künstlerische Ambitionen“ haben, über Herkunft, Kindheit und Gefühle nicht sprechen konnten.
Bei seinem Großvater, der mit schaurigsten Horrorgeschichten das schönste Gefühl der Geborgenheit
1stiften konnte, habe der Filmemacher aus dem Hunsrück seinen Geschichtenschatz zu horten begonnen. Jeder Erzähler sei auf so einen „Hort von Geschichten“ angewiesen, der „eng mit dem Leben des Autors verknüpft“ sein müsse, die Geschichten aber könnten dabei in „höchst unterschiedlichen Verkleidungen auftreten“. Für Nadolny ist
1dagegen Geborgenheit kein Motiv des Erzählens, sondern die Neugier auf Fremdes, die „an das Rätsel heranerzählt, vorwärts hinein ins Dunkel“ mit „Freude am Lügen und Fabulieren“. Weil sich die beiden „Entschleunigungs-Gurus“ in vielen Punkten nicht einigen konnten, verlief die Gegenbühne 2 im besten Sinne kurzweilig. jk
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