: Vier Monate nach Sandoz - Rhein am Tropf
■ Nach Aussagen von Wissenschaftlern ist der Patient „krank, aber noch nicht tot“ / Fische, Muscheln und Kleinlebewesen stark geschädigt 350 Schadensersatzforderungen an Sandoz / Ca. 100 Millionen Kubikmeter Giftschlamm hat sich im Rhein–Mündungsdelta abgesetzt
Hamburg (dpa/taz) - Vier Monate nach der Brandkatastrophe bei dem Schweizer Chemiekonzern Sandoz in Basel sind die ökologischen Spätfolgen für den Rhein noch nicht absehbar. Fachleute gehen nach einer Umfrage der Deutschen Presse–Agentur davon aus, daß es zehn Jahre und länger dauern wird, bis der Rhein den Vor–Sandoz–Zustand wieder erreicht hat. Die ärztlichen Bulletins klammern sich daran, daß der Rhein „krank, aber noch nicht tot“ und das „biologische Potential zur Regenerierung“ noch vorhanden sei. Welche Auswirkungen hatte der Chemiemunfall vom 1. November 1986, bei dem nach amtlichen Angaben schätzungsweise 15.000 Kubikmeter mit Chemikalien verseuchtes Löschwasser in den Fluß gelangt sind? Insgesamt lagerten nach Angaben von Sandoz in der abgebrannten Lagerhalle 1.246 Tonnen Schadstoffe, darunter allein 934 Tonnen Chemikalien für die Landwirtschaft, Pflanzenschutzmittel, Schädlingsbekämpfungs– und Düngemittel. Nach dem Bericht des Bundesumweltministeriums wurde durch das Chemieunglück der Aalbestand von der Einleitungstelle bei Basel bis zur Loreley auf einer Strecke von 401 Kilometern total vernichtet, ebenso in den Flußläufen des Altrheins. In Baden–Württemberg wurden nicht nur die Aale ausgerottet, sondern außerdem die Bestände an Äschen, Hechten und Zandern geschädigt. Spätschaden an den Beständen lassen sich nach Auskunft eines Fischereisachverständigen im Regierungspräsidium Karlsruhe frühestens im März feststellen. Dann wolle man die Brut von Hechten und Zandern unter die Lupe nehmen. In den Fischen, die derzeit gefangen werden, seien „Sandoz–spezifische Stoffe nicht mehr nachweisbar“. Die Aale werden voraussichtlich erst in zehn Jahren ihre alte Population wieder erreichen. Der baden–württembergische Umweltminister Weiser (CDU) legte Anfang Februar einen 82–Seiten–Bericht vor, nach dem in der Umgebung der Unglücks stelle bis auf wenige Ausnahmen ein „Totalausfall der Besiedlung“ aller Lebewesen festzustellen sei. Starke Schäden gebe es darüber hinaus im Flußlauf zwischen Basel und Neuenburg. Unter den Lebewesen sind von der Verseuchung des Rheins nach Angaben des Frankfurter Senckenberg–Instituts die Einzeller weniger stark betroffen, doch sei bei den Muscheln ein „drastischer Rückgang“ festzustellen. Schaden erlitten haben auch die sogenannten Fischnährtiere, die den im Fluß lebenden Fischen zur Nahrung dienen, z.B. Fliegenlarven und Bachflohkrebse. Sie werden frühestens in zwei Jahren ihre alte Bestandsstärke aufweisen. Unterdessen haben die Behörden in Frankreich im November ein für sechs Monate geltendes Fischfangverbot erlassen. Baden– Württemberg hatte sich kurz nach der Katastrophe darauf beschränkt, Sportfischern vom Fischfang und Verzehr abzuraten. Nach wie vor haben die Rheinfischer unter Umsatzeinbußen zu leiden, da die Verbraucher keine Fische aus dem Rhein und seinen Nebenflüssen kaufen. Im Frühjahr soll Glasaalbrut aus Frankreich in Nebenarmen des Rheins zur Wiederansiedelung ausge setzt werden. In Hessen müssen auf 110 Rheinkilometern nach Schätzungen von Fachleuten in den kommenden Jahren 4.000 Kilogramm Jungaale ausgesetzt werden, um wieder soviele Aale wie vor dem Chemieunglück zu haben. Jean–Louis–Verrel vom Institut CEMAGREF in Lyon spricht sich gegen solche Aktionen aus: „Es ist sinnlos, eine Fauna neu anzusiedeln, wenn sie vielleicht ebenfalls vergiftet wird“, sagte er. In den Niederlanden ist nicht die aktuelle Belastung des Rheins nach dem Sandoz–Unfall die Hauptsorge, sondern die jahrzehntelange Schadstoffablagerung von Giftstoffen im Rhein– Maas–Mündungsgebiet. Hier haben sich in den vergangenen 30 Jahren zirka 100 Millionen Kubikmeter Giftschlamm im Mündungsdelta des Rheins abgesetzt. Ein Teil dieses Schlamms wurde in die Küstenzone der Nordsee bis in die Deutsche Bucht geschwemmt. Damit ist die Situation für das Frühjahrslaichen der Nordseefische ohnehin schon prekär. Das Chemieunternehmen in Basel hat nach eigenen Angaben bisher rund 350 Schadensersatzforderungen erhalten. Über die Höhe der Forderungen gibt der Konzern keine Auskunft. Das Land Hessen hat Schadensersatz in Höhe von 1,8 Millionen Mark gefordert. Baden–Württemberg verlangte 8,5 Mio. Mark.
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