Beunruhigend viele mongoloide Babies

■ Humangenetisches Institut Berlin registriert „absolut außergewöhnlich“ hohe Zahl von Mißbildungen im Januar / Zusammenhang mit Tschernobyl? / Bundesweite Erhebung soll weitere Daten liefern / Auch in München wurden mehr „mongoloide“ Babies geboren

Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Eine ungewöhnlich hohe Zahl von Mongolismus“–Fällen wurde in Berlin und München im Monat Januar registriert. Mit einer bundesweiten Daten–Erhebung soll jetzt geklärt werden, ob diese Auffälligkeit auch in anderen Bundesländern besteht und ob sie mit den Strah lenbelastungen durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zusammenhängt. Der Münchner Kinderarzt Dr. Waldenmaier hatte den Stein ins Rollen gebracht. In seinem Labor für genetische Diagnostik, in dem er vor– und nachgeburtliche Chromosomenuntersuchungen durchführt, war ihm bei den Geburten im Januar eine erhöhte Rate von „Trisomie 21“–Mißbildungen (umgangssprachlich als „Mongolismus“ bezeichnet) aufgefallen. Bei 40 nachgeburtlichen Untersuchungen hatte er bei vier Babies eine „Trisomie 21“ festgestellt. Da die Rückrechnung des Zeugungsdatums zumindest in drei Fällen mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zusammenfiel, informierte Walden maier das Bundesgesundheitsamt. Von dort gelangte die Information über den Info–Dienst der Berliner Strahlenmeßstelle an die Öffentlichkeit. Nachdem wochenlang weitere Gerüchte und Zahlen über angeblich erhöhte Mißbildungsraten auch für Berlin kursierten, wurden sie jetzt vom Institut für Humangenetik der Freien Universität bestätigt: Im Monat Januar wurden in Berlin zehn Babies mit Trisomie 21 geboren. Aus einer siebenjährigen Beobachtung der Geburten in Berlin haben die Wissenschaftler aber einen Durchschnittswert von Trisomie 21 von „nur“ 2,06 Fällen errechnet. Der höchste Einzelwert, der in diesen sieben Jahren ermittelt wurde, geht auf den Feburar 1981 zurück, als sechs Trisomie 21–Fälle notiert worden waren. Wie Prof. Sperling von Humangenetischen Institut gegenüber unserer Zeitung versicherte, sei die Zahl von zehn Babies „absolut außergewöhnlich“. Dafür gebe es zunächst „keinerlei Erklärung“. Zu einer Bewertung reiche das epidemiologische Material aber noch nicht aus. Fortsetzung Seite 2 Es gibt zweierlei Ergriffenheit: die eine greift ans Herz, die andere an die Gurgel. Stanislaw Jerzy Lec Dazu seien bundesweite Erhebungen notwendig, die auf seine Initiative hin jetzt auch innerhalb eines Monats durchgeführt werden. Trisomie 21 ist eine Chromosomen–Anomalie, bei der das Chromosom Nr. 21 in drei– statt zweifacher Ausfertigung vorliegt. Die Mißbildung entsteht vor der Zeugung durch einen „Fehler“ der weiblichen Eizelle oder des männlichen Spermas. Der Biologe Henning Engeln schreibt dazu: „Ent stehen kann eine solche fehlerhafte Chromosomen–Zahl während der Keimzellenbildung. Dabei findet die sogenannte Reifeteilung statt, bei der die zukünftige Eizelle bzw. das zukünftige Spermium ihre Chromosomenzahl halbieren, indem sie die Chromosomen auf zwei Tochterzellen verteilen. In seltenen Fällen gerät dabei in manche Zellen ein Chromosom zuviel. Strahlen, aber auch bestimmte chemische Substanzen können diese Fehlverteilung häufiger auftreten lassen. Bringt man die erhöhte Zahl von Trisomie 21 mit dem Unfall von Tschernobyl in Verbindung, ist die Rückrechnung auf das Zeugungsdatum entscheidend. Bei den Fällen ist diese offenbar noch unklar. Nach Auskunft von Prof. Sperling liege die Zeugung in drei der zehn Trisomie–Fälle vor dem Unfalldatum (26. April). Sperling warnte denn auch vor „voreiligen Schlüssen“. Die hohe Trisomienzahl im Januar könne auch ein Zufall sein, selbst wenn solche Zufälle „sehr unwahrscheinlich“ sind. Nachfragen der taz bei anderen humangenetischen Beratungsstellen und dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik, Fuhrmann, ergaben keine Anhaltspunkte für weitere Auffälligkeiten. Mitglieder der Berliner Elterninitiativen wiesen allerdings daraufhin, daß auch die Berliner Zahlen zunächst zurückgehalten worden seien. Prof. Sperling bestätigte dies indirekt: Um keine unnötige Beunruhigung zu schaffen, seien vor einer Veröffentlichung die Februar– Zahlen abgewartet worden. Im Februar wurden in Berlin zwei Babies mit Trisomie 21 geboren, im Dezember 1986 waren es ebenfalls zwei Babies gewesen. Die „Bild“–Zeitung berichtete am Dienstag von einer „Häufung von Mongoloismus–Fällen“im Bamberger Klinikum und einer nicht näher bezeichneten „Zunahme von Anomalien“, die in Erlangen vom Institut für Humangenetik festgestellt worden seien. In beiden Fällen wurden von der Leitung der Klinik die „Bild“–Meldung, die keine namentlichen Quellen angab, dementiert. Wie der Münchner Kinderarzt Dr. Waldenmaier beklagt, gibt es beim Bundesgesundheitamt keine Koordinationsstelle für Daten und Hinweise über Anomalien, die mit Tschernobyl in Verbindung gebracht werden. Auf Seiten der Bürgerinitiativen sammelt die Unabhängige Strahlen–Meßstelle in Berlin (030/394 89 60) weitere Hinweise auf Mißbildungen und Anomalien.