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I N T E R V I E W Nordsee: „Die großen Buhmänner sitzen woanders“

■ Interview mit dem Bremer Meeresbiologen Stefan Wellershaus über den Zustand des EG–Meeres und mögliche Konsequenzen / Am Wochenende tagt die Aktionskonferenz Nordsee / Die Produktion der Schadstoffe ist entscheidend

taz: Die Nordsee gilt noch immer als größte Müll– und Giftkippe Europas. Wie beurteilst du heute ihren ökologischen Zustand verglichen mit der Bestandsaufnahme von 1980? Wellershaus: Seitdem wurden eine Reihe neuer Untersuchungen gemacht, und es gibt einige Punkte, die darauf hindeuten, daß in der südlichen Nordsee einige Lebensgemeinschaften zusammenbrechen. Das bekannteste Indiz dafür sind die Fischkrankheiten, die so weit zugenommen haben, daß einzelne Fischarten wie z.B. die Wittlinge an der Rhein– und Maas–Mündung so stark vergiftet sind, daß sie sich im Aquarienversuch nicht mehr fortpflanzen. Man weiß auch, daß die Boden– Tiere in der Deutschen Bucht in der Vielfalt ihrer Arten deutlich abgenommen haben. Acht Arten sind aus diesem Gebiet verschwunden, und auch die Krankheiten der Tiere haben zugenommen. Die Besiedlung mit Phytoplankton, also einzelligen Pflanzen, hat sich verändert. Das deutet darauf hin, daß sich auch das chemische Milieu grundlegend verändert hat. Bekannt sind die Krankheiten bei Seehunden und Vögeln, die unter einer höheren Anfälligkeit von Infektionskrankheiten und Parasiten leiden. Man führt dies auf den Umwelt–Streß zurück. Welches sind die wichtigsten Ursachen für diesen Streß? Die wichtigsten Ursachen sind die Schadstoff–Belastungen, die in erster Linie durch die Flüsse in die Nordsee gelangen. Man rechnet - je nach Schadstoffklasse - etwa mit einem Anteil von 40–90 Rest kommt über die Atmosphäre oder zu einem geringen Anteil aus der Verklappung. Der Zustand der Flüsse hat sich aber in den 80er Jahren leicht verbessert... Verbessert ist nicht der richtige Begriff. Man kann vielleicht sagen, daß einige Tiere wieder besser in den Flüssen leben können und daß mengenmäßig einige Schadstoffe weniger in die Nordsee transportiert werden, aber es sind noch immer viel mehr als unter na türlichen Bedingungen. Und bei den organischen Schadstoffen (hochgiftige, schwer abbaubare Stoffe - die Red.) hat die Schadstoffracht über den Rhein noch zugenommen. Sind diese hochtoxischen Spurengifte, die sog. Chlorkohlenwasserstoffe, heute das Hauptproblem der Nordsee? Das ist schwer zu sagen. Man kann allerdings festhalten, daß Untersuchungen von 1981 und 1985 in der südlichen Nordsee belegen, daß die Konzentration mit Gamma– HCH, das ist ein Pflanzenschutzmittel aus dieser Stoffklasse, daß die sich verdoppelt hat in diesem Zeitraum. Das ist ne Menge. Die Bundesregierung sieht eine „Erfolgsbilanz“ in Sachen Nordsee. Die Schwermetallbelastung sei zurückgegangen, die Dünnsäureverklappung reduziert worden. Die Konzentration auf die Dünnsäure–Verklappung durch Cronos–Titan ist ein Ablenkungsmanöver. Da mußte ein Betrieb als großer Buhmann herhalten, während d durch ihre Einleitungen, sondern durch ihre Produkte, die sie verkaufen und die über Um die Umwelt mit einer Verzögerung von vielleicht 15–20 Jahren. Seit 15 Jahren befaßt sich die Meeresforschung mit den Umweltproblemen der Nordsee. Gibt es heute noch eine Bringschuld der Wissenschaft? Die Bringschuld liegt nicht so sehr in der Aufklärung über den Zustand der Nordsee. Sie liegt ganz woanders. Auf der letzten Londoner Konferenz haben ungefähr 40 Wissenschaftler gesprochen und eine Vielzahl besorgniserregender Fakten vorgetragen. Aber nur einer oder zwei waren bereit, auch auf die Hintergründe der Probleme zu zeigen: daß die Probleme eben nicht in der Einleitung von Schadstoffen liegen, sondern in der Herstellung. Und im wirtschaftlich–technischen System, daß die Herstellung dieser Schadstoffe in solch großen Mengen möglich macht und erzwingt. Dies darzustellen, lehnen die Wissenschaftler ab. Sie machen nur die Reports, und dann sollen die Politiker entscheiden. Diese Entscheidungen sehen dann so aus, daß es z.B. schon 1985 13 internationale Übereinkünfte zum Schutz der Nordsee gab, 11 EG– Richtlinien, 17 nationale Rechtsvorschriften usw., während die See weiter giftig vor sich hindümpelt. Die einzelnen Abkommen haben natürlich eine gewisse Bedeutung, um z.B. die Abfall– Verklappung oder die Verunreinigung durch die Schiffe zu verringern. Aber das Hauptproblem bleibt, daß man die Schadstoffe überhaupt herstellt und nicht im geschlossenen System hält. Aber da traut sich keiner ran. Wie beurteilst Du die unterschiedliche Nordsee–Politik der Anrainer–Staaten. Wo sitzen die bösen Buben? Die fortschrittlichsten Ansätze kommen am ehesten noch aus der Bundesrepublik und den Niederlanden, dann vielleicht noch Dänemark. Die BRD ist aber auch größter Gift– Produzent. Frankreich zeigt überhaupt kein Interesse an der Nordsee–Sanierung. In Großbritannien können nicht einmal die Wissenschaftler frei über den Zustand der Nordsee sprechen. Ihr werdet auf der Nordsee–Konferenz vermutlich eine Fülle von Forderungen stellen. Was ist der wichtigste Punkt? Die Veränderung unseres wirtschaftlich– technischen Systems muß diskutiert werden. Das darf nicht länger tabu bleiben. Die Zahlen und Fakten zum Zustand der Nordsee liegen auf dem Tisch, und jetzt geht es um die Frage, wie kommen wir aus der Falle raus? Und dabei gehts an die Produktion ran. Wir brauchen eine Innovation, neues Know–how und neue Ideen, ein wunderbarer Exportartikel im übrigen. Interview: Manfred Kriener

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