: Exodus aus der grünen Insel
■ Irische Auswanderungsrate wieder gestiegen / Wichtigste Gründe sind Arbeitslosigkeit und katastrophale Wirtschaftslage / Traditionelle Auswandererländer schließen Tore / US–Visa–Lotterie mit 10.000 Gewinnern / „Blutsbande zwischen USA und Europa schwächer“
Aus Dublin Ralf Sotscheck
Die Buslinie 7 fährt nach Süd– Dublin ins Botschaftsviertel. In diesem Teil der irischen Hauptstadt liegen die riesigen Villen im gregorianischen Stil, die so gerne in den Touristenbroschüren abgebildet werden. Der Bus ist fast leer. Wer hier wohnt, fährt Auto. Die obligatorischen Bemerkungen über das Wetter bringen mich mit Kevin und Philip ins Gespräch. Kevin ist 20 Jahre alt. Er ist sehr groß und sieht sportlich aus. Der Anzug, den er trägt, ist ihm ein paar Nummern zu klein, und man sieht ihm an, daß er sich darin nicht wohlfühlt. Die Schule hat Kevin mit 16 abgebrochen, ein paar Gelegenheitsjobs hat er beim Straßenbau gehabt und ist seit über einem Jahr arbeitslos. Sein Freund Philip ist Mitte 20. Er hat eine modische Brille auf und einen gepflegten Bart. Auch er trägt Anzug und Krawatte. Anders als Kevin ist er aber offensichtlich daran gewöhnt. Er macht einen selbstbewußten Eindruck, wirkt fast arrogant. Philip ist Computer–Techniker und hat seit drei Jahren einen recht gut bezahlten Job bei einer deutschen Computer–Firma. Die beiden haben sich gerade im Bus auf dem Weg zur US–amerikanischen Botschaft kennengelernt. Sie wollen an der „Visa–Lotterie“ teilnehmen. Die USA hatten vor wenigen Wochen bekanntgegeben, daß sie 10.000 Einwanderungsvisa für Europäer ausstellen würden. Einfaches Auswahlprinzip: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Botschaft ist eine Beleidigung fürs Auge. Sie sieht aus wie eine gigantische Bienenwabe aus Beton, und genauso gehts auch drinnen zu. Denn Kevin und Philip sind nicht die einzigen, die von dem US–Angebot angelockt wurden. Kevin will in die Staaten, weil ihm in Irland die Hoffnung auf eine feste Arbeit vergangen ist. Er hat einen Bruder in den USA, der dort schon seit fünf Jahren lebt. Die USA lassen 10.000 Europäer ins Land, weil sich die Quotierung zugunsten lateinamerikanischer Einwanderer verschoben habe. Der US–amerikanische Kongreß–Abgeordnete Brian Donnelly, selbst Sohn irischer Einwanderer, sieht noch einen weiteren Aspekt: „Die Blutsbande zwischen Europa und den USA wird langsam schwächer. Aber wer als Europäer Verwandte in den USA hat, sieht unser Land in einem besseren Licht. Und wenn die USA manchmal etwas tun muß, was den Europäern brüsk erscheinen mag...“ Den Rest läßt er offen. 40.000 Auswanderer pro Jahr Philip will trotz seiner sicheren Stellung Irland verlassen. „Wegen der unverschämten Steuern“, wie er sagt. Er ist seit drei Monaten verheiratet und will auswandern, „bevor Kinder kommen“. Vier bis fünf möchte er haben. Philip hat selbst acht Geschwister, aber in den USA kennt er niemanden. Er glaubt aber, daß er sich schnell zurechtfinden und einen Computer– Job bekommen wird. So bald wie möglich will er die amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen. „Das dürfte kein Problem sein - die sind da drüben sicher ganz scharf auf meinen irischen Paß.“ Eine Anspielung auf Irangate. Der frühere US–Sicherheitsberater McFarlane und seine zehn Begleiter haben nämlich bei ihrer Waffenmission in den Iran im letzten Jahr gefälschte irische Pässe benutzt, die der iranische Parlamentssprecher Rafsanjani im Januar der Presse präsentierte. McFarlane hieß laut irischem Paß „Sean F. Devlin“, was an Originalität dem deutschen Namen „Hans Müller“ entspricht. Die gefälschten Pässe stammten vermutlich aus einem Einbruch in eine Dubliner Druckerei im Jahre 1982, bei dem 100 Blanko–Pässe gestohlen wurden. Es ist zweifelhaft, ob Philips Optimismus begründet ist. Immer mehr Iren/innen konkurrieren schon um das begehrte Einwanderungsvisum der USA. 40.000 Iren und Irinnen verlassen jährlich das Land. Auf die Bundesrepublik übertragen wären das 700.000 Menschen. Die Auswanderungsrate ist mittlerweile wieder halb so hoch wie die Geburtenrate. Pro Kopf der Bevölkerung ist Irland das höchstverschuldete Land Westeuropas, mit einer Arbeitslosigkeit von 20 Prozent. Totenfeier Nun ist Auswanderung beileibe kein neues Phänomen, sondern bestimmt das irische Leben seit 140 Jahren. Auf dem Höhepunkt der Bewegung zur Zeit der Hungersnot Mitte des letzten Jahrhunderts wanderten jährlich 250.000 Menschen aus. Meine Nachbarin erinnert sich an die Geschichten ihrer Großmutter: „Sie erzählte oft abends am Feuer von ihrer Familie. Sie stammt aus einem Dorf an der Westküste. Die Hälfte ihrer 14 Geschwister ist in die USA ausgewandert. Jedesmal wurde am Tag vor der Abreise eine regelrechte Totenfeier zelebriert. Das ganze Dorf war eingeladen. Klageweiber wurden gemietet, es gab viel zu trinken, aber wenig zu essen. Schließlich war die Hungersnot der Grund für die Auswanderungen. 1847, als die Not besonders groß war, fand fast jede Woche eine solche Feier im Dorf statt. Meine Großmutter hat ihre Geschwister nie wieder gesehen, bis auf einen Bruder, der um die Jahrhundertwende mit einem Haufen Geld, aber schwer krank, zurückkehrte. Er starb ein halbes Jahr später. Die anderen schrieben oft, schickten auch Geld, aber nach Irland zurückgekehrt sind sie nie.“ Aus keinem anderen Land Europas ist ein so großer Teil der Bevölkerung ausgewandert, so daß die Bevölkerungszahl trotz hoher Geburtenrate sank. In den USA leben mehr Iren als in Irland. Irland ist sogar für viele amerikanische Präsidenten verantwortlich. Kennedy, Nixon und Reagan, der vor vier Jahren den Ort seiner Vorfahren, das kleine irische Dorf Ballyporeen, besuchte, haben mit Blick auf die Wahlstimmen der Auswanderer ihre irische Herkunft betont. Grenzen werden dichtgemacht In der Vergangenheit führte der Anstieg der Arbeitslosenzahl um ein Prozent zu 5.000 zusätzlichen Auswanderern pro Jahr. Noch vor einer Generation fanden die Iren und Irinnen in den traditionellen Einwanderungsländern Großbritannien, den USA, Kanada und Neuseeland offene Türen vor. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit in allen westlichen Industrieländern gestiegen. Die Einreisebestimmungen sind verschärft worden, und viele Ausreisewillige sind heute dazu verurteilt, in Irland zu bleiben und von der Sozialhilfe zu leben. Immer mehr wandern inzwischen in die nicht–englischsprachigen EG–Länder aus. In der Bundesrepublik leben und arbeiten über 6.000 Iren, und jeden Sommer kommen zwischen 5.000 und 10.000 Studenten dazu, die für zwei oder drei Monate in Fabriken oder Hotels arbeiten. Irische Politiker und Journalisten sehen den Exodus als „nationale Schande“. John Healy von der Irish Times nennt die Auswanderungen gar einen „nationalen Selbstmord“. Dagegen steht, daß die Auswanderung der einen Hälfte der Bevölkerung in den letzten 140 Jahren es der anderen Hälfte ermöglichte, einen Lebensstandard zu erreichen, der näher an der ersten als der dritten Welt lag. Die Auswanderer nahmen den finanziellen Druck von der Regierung und schickten obendrein einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens an ihre Familien in der Heimat. Kevin und Philip werden bis Ende September warten müssen, bis sie Bescheid bekommen, ob sie bei der Visa–Lotterie eine Niete gezogen haben. Aber selbst wenn sie unter den ersten 10.000 Antragstellern waren, kommt womöglich eine neue Hürde auf sie zu: das Auswärtige Amt in Washington erwägt Gesundheitsuntersuchungen für die Immigranten, unter anderem einen AIDS– Test.
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