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Rust und Frust im Moskauer Militärapparat

■ Radikale Reaktion Gorbatschows: Verteidigungsminister und Chef der Luftabwehr ausgetauscht / Deutsche Botschaft: Noch keinen Kontakt zu Kreml–Flieger Rust

Berlin (taz) - „Der Kerl, der den Sowjetstaat durcheinander gewirbelt hat, kommt aus einem roten Haus“ - der witzelnde Reporter, der wie Dutzende seiner Kollegen das Haus des Mathias Rust in Wedel belagert, meint die Farbe der Klinker an dem Reihenhaus. Der 19jährige Sportflieger selbst ist ein Junge von „erschrec kender Durchschnittlichkeit“, so das Urteil der Nachbarn. Das heißt, er war es bis Ende letzter Woche: Seine tollkühne Landung mitten auf dem Roten Platz in Moskau führte am Samstag zur Entmachtung des 75jährigen Verteidigungsministers der UdSSR, Maschall Sergej Sokolow, und zur Entlassung des Chefs der Luftabwehr, Marschall Alexander Koldunow. Während die Moskauer offenbar ganz gelassen reagierten und die Reise Rusts eher als Hang zum Abenteuer sahen, suchen westliche Diplomaten und Militärs nach tieferen Motiven, wenigstens in den Reaktionen der sowjetischen Führung. Für den afp–Korrespondenten sind sie dabei in einem einig: Parteichef Michail Gorbatschow hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, die ihm der junge Rust bot, so diese Interpretation, und seinen Einfluß auf das Oberkommando der Roten Armee verstärkt. Mit der Ernennung des Generals Dimitri Jasow zum neuen Verteidigungsminister wolle der Kremlchef sich die Aufsicht über die Beförderungen in den Offizierskadern sichern: Genaral Jasow hatte das Personalwesen der Armee bereits unter sich. Mathias Rust befand sich nach Informationen der Deutschen Presse–Agentur bis gestern wahrscheinlich in einem KGB–Gefängnis. Seit Donnerstag, als der 19jährige in Moskau gelandet war, hatte die bundesdeutsche Vertretung keinen Kontakt mit ihm. Der soll angeblich heute kommen. Rust war mit seiner Sportmaschine vom Typ „Cessna 172“ von Helsinki kommend rund 700 Kilometer durch den sowjetischen Luftraum geflogen. Dabei hat die Radarkontolle des Landes die kleine Sportmaschine offenbar ausgemacht, sie aber für eine Inlandsmaschine gehalten. Das teilte der Leiter der Moskauer Auslandsagentur Nowosti, Valentin Falin, am Sonntag mit. TASS zufolge hatten außerdem Abfangjäger die Maschien Rusts zweimal umkreist, aber nicht eingegriffen. Zum Versagen der Luftabwehr meinte Falin: „Stellen Sie sich einmal vor, es wäre kein Sportflugzeug gewesen.“ Nach sowjetischem Recht könnte Rust zu einer Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahre und zusätzlicher Geldstrafe verurteilt werden. Alles das wegen „Verletzung der internationalen Flugregeln“ und unerlaubter Landung auf sowjetischem Territorium. Nowosti–Leiter Falin geht allerdings davon aus, „daß der junge Mann bald seine Eltern und Freunde wiedersehen wird“. a.r. Pressestimmen und Querspalte: auf Seite 4 Portait auf Seite 5 Bericht auf Seite 6

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