Krebs als Jongliermasse

■ Eine Experten–Studie berechnet das Restrisiko durch Luftschadstoffe / Krebsrisiko von 1:1.000

Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Wieviele Krebstote - verursacht durch Luftschadstoffe - darf sich ein Land wie die Bundesrepublik leisten? Welches Restrisiko durch die von Chemikalien belastete Atemluft ist „noch tolerabel und von allen zu tragen“? Die „Arbeitsgruppe Krebsrisiko durch Luftverunreinigungen“ hat diese Frage konkret beantwortet. In einer bisher unveröffentlichten Studie, die als Diskussionspapier und Denkanstoß dienen soll, hat die vom Länderausschuß für Immissionsschutz eingesetzte Arbeitsgruppe die Krebsrisiken der - nach ihrer Meinung - wichtigsten sieben Krebs verursachende Luftschadstoffe betrachtet und sog. Beurteilungswerte (Grenzwerte) vorgeschlagen. Ausgangspunkt ihrer Berechnungen ist ein noch zumutbares Krebsrisiko von 1:1.000. Das hißt, von tausend Bundesbürgern, die lebenslänglich einem oder mehreren dieser Schadstoffe im Grenzwertbereich ausgesetzt sind, stirbt einer. Setzt man die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik von 60 Mio. Menschen den Luftgiften im Grenzwertbereich aus, würden 60.000 an einem als tödlich angenommenen Krebs sterben. Fortsetzung auf Seite 2 Da vor allem die Landbevölkerung aber nicht solch starken Belastungen ausgesetzt ist, reduziert sich die Zahl der Krebsopfer. Die Bundestagsgrünen, die das interne Papier gestern in Bonn vorstellten, nannten, ausgehend von den Berechnungen der Studie, die Zahl von 43.000 Krebsopfern innerhalb von 70 Jahren. Die Grünen–Abgeordnete Charlotte Garbe kritisierte die Krebszahlen, die als „nicht vermeidbarer Preis einer modernen Industriegesellschaft hingenommen werden sollen“, als „Gipfel des Zynismus“. Für krebserzeugende Chemikalien müsse die Null–Emission gelten, fordete Frau Garbe. Ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Margret Reimers kritisierte den grundsätzlichen Denkansatz solcher Berechnungen, die von der Bereitschaft ausgingen, ein bestimmtes Potential an Krebstoten in Kauf zu nehmen. Demgegenüber bestreiten die Verfasser, ein 20köpfiges Expertenteam aus Ministerien, Umweltbundesamt und Forschungsinstituten, die Möglichkeit einer Null–Emission und damit eines Null–Risikos: „Dann müßten Sie alle Heizungen abdrehen und jedes Auto aus dem Verkehr ziehen.“ Die Studie sei der erstmalige Versuch, die Risiken der Luftschadstoffe konkret zu quantifizieren. Zur Pressekonferenz der Grünen war der Mitverfasser und Vertreter von Umweltminister Töpfer in der Expertenrunde, Dreisvogt, erschienen, der gemeinsam mit Dr. Türk vom Töpfer–Ministerium das Papier verteidigte. Die Grünen hätten die Intention dieser Studie, auf die Gefahren der Luftschadstoffe aufmerksam zu machen, völlig verkannt, sagte Türk. Die Verfasser des Papiers betonen, daß die gegenwärtige Belastungssituation weit größer sei, als das von ihnen als akzeptabel angenommene Krebsrisiko von 1:1000. Einen solchen Zustand zu erreichen, wäre schon eine deutliche Verbesserung. Das Papier soll zugleich die wichtigsten Krebserzeuger „bekanntmachen“. Mit einem Anteil von 58,9 Prozent am Gesamtgefährdungsgrad werden hier die polyziklischen Kohlenwasserstoffe an erster Stelle genannt, vor Asbest (12,4 Prozent), Benzol (10,6), Chrom (10,3), Arsen (6,0), Cadmium (1,3) und Nickelverbindungen (0,5). Grenzwerte für die Atemluft gibt es für keinen dieser Gefahrstoffe.