: „Es ist ein historisches Abkommen“
■ Gedanken für den Tag danach: Der INF–Vertrag ist Ausdruck für eine grundlegende Änderung der internationalen Beziehungen / Der neue Feind steht in der Dritten Welt, und die Militärplaner haben daraus bereits Konsequenzen gezogen / Die Friedensbewegung wird sich daran orientieren müssen
Von Mary Kaldor
Der Börsensturz an der Wall Street und das INF–Abkommen markieren den Beginn einer Neustrukturierung der internationalen Beziehungen. Die ökonomische Bedeutung Westeuropas und Japans werden einen stärkeren politischen Ausdruck finden, und die globale Bedeutung des Ost–West– Konfliktes wird einer stärkeren Beschäftigung mit Nord–Süd– Themen weichen. Diejenigen unter uns, deren Leben von der Antiatombewegung der frühen 80er Jahre geprägt wurde, müssen einen Weg finden, die Ungewißheit der neuen Situation auszunutzen und einigen der gefährlicheren Tendenzen, die wir jetzt in Westeuropa und anderswo beobachten können, entgegenzuarbeiten. Ein historisches Abkommen Das INF–Abkommen repräsentiert vieles von dem, wofür wir uns in den vergangenen sieben Jahren eingesetzt haben. Es ist ein historisches Abkommen: das erste Abkommen seit dem 2. Weltkrieg, das die Abrüstung von Hunderten von Nuklearwaffen beinhaltet (auch wenn die Sprengköpfe in den Arsenalen der Supermächte zurückbleiben). Und was auch die offiziellen Kommentatoren sagen werden, es ist ein Erfolg nicht der Politiker, sondern der öffentlichen Meinung. Es lohnt sich, die Ereignisse der frühen 80er Jahre noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Entscheidung vom Dezember 1979, die Pershing und Cruise Missiles zu stationieren, war damals mit der Aufstellung weiterer sowjetischer SS20 Raketen gerechtfertigt worden. In Wirklichkeit jedoch hatte diese Entscheidung nichts mit den SS20 zu tun. Es ging vielmehr um die „Glaubwürdigkeit“ der Strategie der „flexible response“ und um die Anbindung Westeuropas an die Vereinigten Staaten. Die Betonung der SS–20 sowie die „Zweigleisigkeit“, nämlich gleichzeitig über Abrüstungsschritte zu verhandeln, war nichts als eine Übung in „public relations“ - nur ein Weg, die Stationierungsentscheidung zu versüßen und die widerwilligen europäischen Regierungen in Holland und Belgien zu beruhigen. Der spezifische Vorschlag einer „Null–Lösung“ wurde von der Regierung Reagan im November 1981 vorgebracht, zur Zeit der ersten großen Welle von Demonstrationen. Der Vorschlag stammte aus dem ersten Aufruf der britischen Kampagne für „Europäische Nukleare Abrüstung“ (END) und wurde der Friedensbewegung sozusagen vom Banner gestohlen: „Keine Cruise! Keine Pershing! Keine SS20!“ Die USA waren sich sicher, daß die Russen diesen Vorschlag niemals akzeptieren würden, weil sie in einem solchen Falle weitaus mehr Atomwaffen verlieren würden als der Westen. General Rogers, der damalige Alliierte Oberkommandierende in Europa, hat sich dazu recht klar geäußert: „Einige von uns haben die Null–Lösung damals im Jahr 1981 akzeptiert, weil wir annahmen, die Russen würden ihr niemals zustimmen.“ Aber Gorbatschow nahm die Null–Lösung an. Und er nahm sie an, wie er in mehreren Reden klargestellt hat, weil er das Argument der Friedensbewegung akzeptierte, daß nämlich die numerische Gleichheit im Atomzeitalter ihre Bedeutung verloren hat. Die Sowjetunion kann es sich leisten, dreimal soviele Atomwaffen wie der Westen aufzugeben, weil sie nur eine Handvoll braucht, um Europa in die Luft zu jagen. Es waren Gorbatschows Konzessionen und nicht die Stationierung von Pershing und Cruise, die das INF–Abkommen ermöglicht haben. Wäre die Taktik der NATO aufgegangen, dann wäre das Resultat ein weiteres Wettrüsten und nicht etwa ein Abrüstungs–Abkommen gewesen. Politische Bedeutung wichtiger als militärische Das INF–Abkommen hat eine weitaus größere politische als militärische Bedeutung. Schließlich machen die Mittelstreckenwaffen nur drei Prozent des gesamten nuklearen Arsenals aus. Aber eben weil diese Mittelstreckenwaffen Gegenstand einer heftigen politischen Debatte waren - das Symbol der amerikanischen atomaren Garantie für Europa -, stellt ihr Abzug die Beziehung zwischen den USA und Europa in Frage. Und weil die NATO die Bedrohung durch die SS20 so in den Mittelpunkt gestellt hat, verändert deren Abzug zusammen mit den Reformen Gorbatschows das Image des Warschauer Paktes. Nichts, was die NATO nun im Rahmen sogenannter „kompensatorischer Anpassungen“ - dem jüngsten Euphemismus für Wiederbewaffnung - beschließt, kann über diese Tatsache hinwegtäuschen. Anfang November hat die nukleare Planungsgruppe im kanadischen Monterey die aktuellen Modernisierungsprogramme für die Gefechtsfeldwaffen der NATO diskutiert: über die Nachfolge der Lance–Rakete, ein neues Artillerie–Geschoß, sowie über stand–off–Raketen für die Tornados oder die F–16. Aber dies sind nur taktische Waffen, die auf dem NATO–Territorium selbst eingesetzt werden könnten. Deswegen halten die militärischen Führer der NATO sie nicht für ausreichend, um zur Aufrechterhaltung der „flexible response“ den Abzug der Cruise und Pershing zu „kompensieren“. Ein anderer Vorschlag beinhaltet zusätzliche seegestützte Marschflugkörper, die von den in Schottland stationierten U–Booten abgeschossen werden könnten. Dieser Vorschlag ist schon einmal mit dem Argument abgelehnt worden, daß diese Raketen als Teil des strategischen Arsenals angesehen werden könnten, ihr Einsatz deswegen eine Vergeltung gegen die USA provozieren könnte. Mit Atomwaffen bestückte B–52–Bomber mit Stützpunkt in Europa oder weitere F–111 stehen ebenfalls zur Debatte, obwohl die NATO–Militärs Flugzeuge als zu verwundbar ansehen. Was die NATO am Ende auch immer entscheiden wird, ihre militärischen Führer wird sie nicht zufriedenstellen. Außerdem müssen alle „kompensatorischen Anpassungen“ noch dem US– Kongreß verkauft werden, der derzeit großen Widerwillen dabei zeigt, den „undankbaren Europäern“ weitere Gelder zur Verfügung zu stellen. Die neue westeuropäische Kooperation Angesichts des bevorstehenden INF–Abkommens gab es bereits viele Aktivitäten zur Koordination der westeuropäischen Verteidigung. Das Argument war, daß die Europäer sich nicht mehr auf die USA verlassen könnten. Es hat bereits Diskussionen über eine Kooperation zwischen Großbritannien und Frankreich in bezug auf Atomwaffen gegeben. Zwischen Frankreich und der Bundesrepublik finden enge militärische Konsultationen statt, die unlängst in der geplanten Aufstellung einer gemeinsamen Brigade mündeten. Es gibt fieberhafte Anstrengungen, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der hochentwickelten Technologien zu verstärken; was wiederum zum Teil auf den Druck der europäischen Rüstungsindustrien zurückgeht, deren Exportmärkte angesichts der ökonomischen Situation in den Ländern der Dritten Welt schrumpfen. Und schließlich verabschiedete die Westeuropäische Union (WEU) Ende Oktober eine „Erklärung zu den europäischen Sicherheitsinteressen“. Die Franzosen wollten gar eine Charta, aber die anderen Mitgliedsländer der WEU - die BRD, Großbritannien, Italien und die BENELUX–Länder - befürchteten, damit die USA zu verärgern. Die Erklärung betont die Notwendigkeit kollektiver Sicherheitsanstrengungen angesichts der „Überlegenheit der Truppen des Warschauer Paktes bei den konventionellen, chemischen und atomaren Waffen“. Sie spricht von der Notwendigkeit konventioneller und atomarer Waffensysteme und erwähnt besonders den Beitrag der unabhängigen britischen und französi schen Atomstreitmächte. Und es wird die Notwendigkeit festgestellt, „unsere Politik in Krisengebieten außerhalb Europas insoweit aufeinander abzustimmen, als sie unsere Sicherheitsinteressen betreffen“. Darüber hinaus basiert eine solche gemeinsame Verteidigung auf dem Konzept einer hochtechnologisierten Rüstung, die von europäischen Rüstungsindustrien unterstützt wird, welche sich mit der US–Rüstungsindustrie im harten Wettbewerb befindet. Dahinter verbirgt sich die wirkliche Gefahr eines europäischen militärisch– industriellen Komplexes, den keine einzelne Nation mehr kontrollieren kann, die Gefahr, daß dieses sogenannte autonome Westeuropa nicht eine selbständige Kreation ist, sondern nur eine Kopie der Vereinigten Staaten - ein Westeuropa, dem technologischen Abbild Amerikas nachempfunden. Das neue Feindbild Die erste Sicherheitsinitiative innerhalb des WEU–Rahmens war die Entscheidung Italiens, Belgiens und der Niederlande, Minensuchboote in den Golf zu schicken, sowie diejenige der Bundesrepublik, Kriegsschiffe aus der Nordsee ins Mittelmeer zu verlagern. Dies könnte bereits ein Zeichen für die andere gefährliche Tendenz nach dem Mittelstreckenabkommen sein, nämlich einer veränderten Stoßrichtung der Militarisierung durch die USA und Westeuropa in Richtung Süden. Auf der einen Seite scheinen sich die militärischen Pläne der USA mit einer offensiven maritimen Strategie (dem Äquivalent zum „Airland Battle“), zunehmend auf die Weltmeere zu konzentrieren, auf die Stationierung von Tausenden von seegestützten Cruise Missiles; auf der anderen Seite bewegt sich die Rhetorik der Bedrohung von der Sowjetunion hin zu einem Konglomerat von Feinden in der Dritten Welt, den Sandinisten, Ghaddafi, den moslemischen Fundamentalisten - zusammengepackt im Begriff der „terroristischen Bedrohung“. Haben unsere Anstrengungen, die Raketen in Europa loszuwerden, nur zu einer Neuverteilung der geographischen Karten geführt, so daß Westeuropa die Verteidigungsrolle der Vereinigten Staaten übernimmt und die Dritte Welt sich zur Ersatzkategorie für die sowjetische Bedrohung entwickelt? Noch kann nur von Tendenzen gesprochen werden. Aus ökonomischen Gründen weigern sich die europäischen Regierungen, ihre Verteidigungshaushalte zu erhöhen. Aus politischen und geographischen Gründen muß die Verteidigung Westeuropas auch weiterhin mit der Bedrohung durch den Warschauer Pakt erklärt werden. Und verschiedene westeuropäische Länder bewegen sich zudem in verschiedene Richtungen - die Diskussionen in Dänemark drehen sich um alternative Verteidigung, Griechenland und Spanien versuchen, die US–Atomwaffen aus ihren Ländern zu verbannen. Die Zeit nach INF In dieser widersprüchlichen Situation haben die europäischen Friedensbewegungen die Chance, eine andere Post–INF–Zukunft zu entwickeln und zu ermutigen: die eines entmilitarisierten und vereinten Europas und einer progressiven und kreativen Beziehung zwischen Europa und der Dritten Welt. Die Friedensbewegung muß sich nun von einer Bewegung gegen die Atomwaffen zu einer Friedensbewegung im eigentlichen Wortsinn entwickeln, zu einer Bewegung gegen den Kalten und Heißen Krieg; zu einer Bewegung, für die die nukleare Abrüstung nur eine Komponente einer umfassenden Strategie zur Beendigung des Ost–West–Konfliktes in Europa und zur Konfliktlösung in der Dritten Welt ist. Eine solche Strategie muß mit einer Lockerung der Beziehung zwischen den USA und Europa einhergehen und gleichzeitig mit einer engeren Kooperation zwischen West– und Osteuropa. Dazu ist ein paralleler Prozeß im Osten nötig, eine Lockerung der Beziehungen zwischen der UdSSR und Osteuropa. Eine solche Strategie müßte auch progressivere Beziehungen zwischen europäischen Ländern und Ländern der Dritten Welt ermöglichen. Die sozialdemokratischen Parteien Europas betonen derzeit die Notwendigkeit einer neuen Entspannung, einer Demilitarisierung in den Beziehungen zwischen Ost und West. Aber eine dauernde Entspannung bedeutet mehr als Begrenzungen bei den Waffen., mehr als das, was die Sowjetunion „friedliche Koexistenz“ nennt. Um die Furcht zu reduzieren, um Feindbilder abzubauen und das gegenseitige Vertrauen zu stärken, müssen sich Ost und West auf allen Ebenen durch Zusammenarbeit näher kommen. Eine solche Kooperation würde auch eine Modifikation der sozialen Systeme von Ost und West erfordern. Eine größere Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den Forderungen der Öffentlichkeit, eine Demokratisierung der ökonomischen und sozialen Systeme, eine Reduzierung des Einflusses militärisch–industrieller Institutionen und die Transformation der Beziehungen zu Dritte Welt Ländern sind alles essentielle Elemente eines Prozesses, der Entspannung, Demokratisierung und Abrüstung umfaßt und der den Kalten Krieg in Europa beenden könnte. Dies ist das neue Projekt der Friedensbewegung, nun, wo unser erstes Projekt erfolgreich abgeschlossen ist. Es wird komplexer und anspruchsvoller sein als unser bisheriger Widerstand gegen die Raketen. Es erfordert eine andere Art von Bewegung, eine Bewegung, die mehr Wert auf Aufklärung als auf Massenaktionen legt. Es erfordert auch neue Allianzen, eine Vermischung mit den sozialen Bewegungen Osteuropas und der Dritten Welt. Es ist ein Projekt für die Diskussion und den Dialog zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, ein Projekt für die 90er Jahre.
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