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16 Jahre unschuldig in Haft

■ Der Arbeiter Holger Gensmer wurde gestern im Wiederaufnahmeverfahren vom Vorwurf der sexuellen Nötigung und des Mordes freigesprochen / Gensmer hatte 1971 ein Geständnis abgelegt und widerrufen

Aus Hamburg Ute Scheub

Gestern hat die Große Strafkammer des Hamburger Landgerichts den 45jährigen Hamburger Arbeiter Holger Gensmer, der 1971 wegen Sexualmordes an der sechsjährigen Birgit König zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, freigesprochen. Gensmers Anwalt Gerd Strate hatte das Wiederaufnahmeverfahren angestrengt, nachdem er ein altes Polizeiprotokoll wiedergefunden hat, das Gensmer als Täter ausschloß. „Unserer Überzeugung nach ist seine Unschuld erwiesen“, erklärte gestern abschließend der Vorsitzende Richter Petersen. Dennoch erhält Holger Gensmer, der seit Juni auf freiem Fuß ist, keine Haftentschädigung. Er hatte zwei Tage nach seiner Verhaftung 1970 die Vergewaltigung und Erdrosselung der Polizistentochter Birgit König gestanden - nach Überzeugung des Gerichts, weil er „der insistierenden Befragung der ihm in jeder Hinsicht überlegenen Vernehmungsbeamten“ keinen Widerstand entgegensetzen konnte - das Geständnis dann widerrufen und im Prozeß von 1971 erneuert. Aufgrund dieses „vorsätzlich falschen Geständnisses“, so die Kammer, habe er keinen Anspruch auf Entschädigung. Außerdem habe er sich das Verhalten seines damaligen Pflichtverteidigers, ein ehemaliger NS–Staatsanwalt, der keinerlei Beweisanträge stellte, selbst zuzuschreiben. Diese Passagen riefen bei Prozeßbeobachtern Verwunderung hervor, da die Kammer andererseits auf die Wehrlosigkeit des sprach– und verhaltensgehemmten Gensmer gegenüber den Polizeibeamten abgehoben hatte. Ausdrücklich lobte der Vorsitzende Richter die „vorzügliche Arbeit“ von Verteidiger Strate. Dieser hatte nach langem und von der Staatsanwaltschaft immer wieder behindertem Bemühen ein polizeilich überprüftes Alibi aus den Spurenakten ausgegraben, wonach Gensmer am Tattag gegen 11 Uhr beim Zahnarzt und anschließend beim Friseur war. Weder das Alibi noch die Aussagen von vier Nachbarinnen, sie hätten das später ermordete Mädchen noch um 10.45 Uhr vor ihrem Elternhaus gesehen, spielten im ersten Verfahren eine Rolle. Da aber zwischen Elternhaus, Tatort und Zahnarztpraxis eine Wegstrecke von mehreren Kilometern liegt, die Gensmer unmöglich in einer Viertelstunde hätte bewältigen können, „kann er“, so das Gericht, „nicht der Täter sein“. Gensmer will mit seinem Anwalt versuchen, doch noch Haftentschädigung zu erhalten. Seit 1947 ist dies das sechste Wiederaufnahmeverfahren bei einem Kapitalverbrechen. Alle endeten mit Freispruch. K O M M E N T A R E

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