: Bevölkerungspolitiker – heute wie einst
■ Ein Buch analysiert den Zusammenhang von Bevölkerungspolitik, Rassismus und Gentechnologie analysiert
Nichts dementiert ein PR-bewußter Humangenetiker in der BRD entschiedener als eine Kontinuität von nazistischer Bevölkerungspolitik und bundesdeutscher „Familienberatung“. Und auch die Distanzierung von KollegInnen, die sich allzu öffentlich der alten Terminologie bedienen, fällt den Wissenschaftlern leicht. „Der Griff nach der Bevölkerung“, nach der westdeutschen zumindest, ist sanfter geworden – allerdings nicht weniger bestimmt. „Es ist alles zu unterlassen, welches die genetische Beratung in Mißkredit bringt“ zitiert Susanne Heim in ihrem Aufsatz „Zwangssterilisation und Retortenbabies“ einen Humangenetiker. Der Beitrag der Politologin in dem Band „Der Griff nach der Bevölkerung“ kontrastiert öffentliche Selbstdarstellung mit der verborgenen Praxis. Hier wird wie eh und effektiver denn je erfasst: In Hamburg, Bayern und Niedersachsen werden von allen in Kliniken eingelieferten Neugeborenen medizinische Daten erhoben, Entwicklungsprognosen abgegeben und beides wird an die Kassenärztlichen Vereinigungen weitergeleitet, in denen auch die von GeburtshelferInnen erfassten Daten über Schwangerschaftsverlauf und Geburt gesammelt werden. Beim Statistischen Bundesamt laufen Meldungen über erkennbare Fehlbildungen bei der Geburt zusammen, europaweit wird schon seit einiger Zeit an der Entwicklung einheitlicher Kriterien für die Erfassung von Mißbildungen gearbeitet. Susanne Heim verknüpft in ihrem Aufsatz dieses Material mit Erkenntnissen über bevölkerungspolitische Programme in Ländern der Dritten Welt, vor allem Bangladesh, und über die Möglichkeiten „positiver Selektion“ mit Methoden der Reproduktionsmedizin. Diese Zusammenhänge herauszustellen ist wichtig, weil nur so eine politische Argumentation gegen gentechnische und reproduktionsmedizinische Methoden entwickelt werden kann, die nicht auf den Prämissen des „christlichen Menschenbildes“ aufbaut, wie sie die CDU derzeit in den Vordergrund, stellt um auf dem Umweg über die Gentech nik das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu beschneiden.
Der Molekularbiologe Ludger Weß hat ein äußerst materialreiches Porträt von „Hans Wilhelm Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft“ geschrieben. Jürgens Karriere zu untersuchen, ist so aufschlußreich, weil er 1932 geboren wurde, nach dem Krieg studiert hat und dennoch, wie sich bei Lektüre seiner Arbeiten erweist, die Kontinuität der Nazi-Bevölkerungswissenschaft repräsentiert und nicht etwa einen Bruch mit ihr. „Bei einem Fortschritt dieser Entwicklung (der niedrigen Geburtenziffern, Anm. Red.)“, zitiert Weß einen Jürgens-Aufsatz von 1957, „läuft das deutsche Volk Gefahr, seinen biologischen Anspruch auf die umstrittenen Ostgebiete zu verlieren. Welche Kraft aber ein historischer Anspruch hat, dem die Stützung durch den biologischen Anspruch fehlt, liegt auf der Hand“. Kurz nachdem Jürgens 1973 das neugegründete Bundesinistitut für Bevölkerungsforschung als Direktor übernommen hat, publiziert er einen Aufsatz, der sich mit den „Problemen ..durch den stetigen Zustrom von Gastarbeitern“ beschäftigt. Jürgens, der eine Überfremdung befürchtet, schlägt ein Rotationsmodell vor, das Weß als „die Europäisierung des südafrikanischen Homeland-Modells“ analysiert: „Einreisegenehmigung nur für unter Vertrag genommene Arbeitsemigranten, strikte Zuzugverbote für Angehörige, jederzeit widerrufbare ...Aufenthaltserlaubnis“.
Als Schwerpunkt von Jürgens Arbeit hat Weß aber die Populationsgenetik ausgemacht. In mehreren statistischen Untersuchungen hat er Begabten- und Asozialenforschung betrieben. In seiner Habilitationsschrift lobt er in dem Zusammenhang die angeblich große Bedeutung die das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1934 gehabt haben soll: sie seien ein Versuch gewesen, „den sozialen Leistungsstand der Bevölkerung zu erhalten“. Eine ähnliche Notwendigkeit sieht Jürgens auch heute, und in seinem 1969 vorgestellten „sozialgenetischen Programm“ warnt er deshalb: „Einkommensunabhängige Kinderbeihilfen verschiedener Art können wohl die Fortpflanzung der wirtschaftlich Schwachen fördern, nicht jedoch die der wirtschaftlich Bessergestellten“. Und daß deren Erbgut das bessere sein soll, hat Jürgens in seinen Studien zur Begabtenforschung nachzuweisen versucht.
Jürgens, auch das weist Weß überzeugend nach, hatte und hat Kontakte zu rechtsradikalen rassistischen Gruppierungen, wie der US-amerikanischen „Northern League“ , der bundesdeutschen „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung“ und dem rechten Pearsons-Institut. Das alles hat ihn weder in der scientific communitiy diskreditiert, noch hat es verhindert, daß er 1979 Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Kiel und Leiter des Lehrfaches Bevölkerungswissenschaft werden konnte.
Während Weß und Heim auf die politische Tradition der Bevölkerungswissenschaftler und Humangenetiker hinweisen und deren Interessen offenlegen, untersucht Karl-Heinz Roth in seinem Aufsatz den wissenschaftlichen Ursprung der Bevölkerungsbiologie. Er zeichnet den Gang und die Sprünge in der wissenschaftlichen Diskussion von 1900 bis in die Vierziger Jahre hinein nach und belegt damit seine These, daß es eine „Rationalität des Vernichtungsdenkens“ gegeben hat, die aus der „durch einen Paradigmenwechsel erzeugten allgemeinen Alarmstimmung über den drohenden Untergang des menschlichen Erbguts“ erwachsen sei: „Ihr Katastrophismus führte zu einer erkenntnistheoretisch gerechtfertigten Radikalisierung der humanbiologischen Praxis“. Verursacht wurde dieser Paradigmenwechsel laut Roth durch die Erkenntnisse der Genetiker bei der Untersuchung sprunghafter Veränderungen im Erbgut (Mutationen). Herrschte bis dahin die Auffassung vor, Vererbung erfolge nach streng festgelegten algebraischen Regeln und in einem Prozeß der „natürlichen Auslese“, schien den Genetikern nach Bemerken der Mutationen nahezu das Gegenteil der Fall. Mutationsflüsse, die in Experimenten in großer Zahl herbeigeführt wurden, verschlechterten das Erbgut bis hin zur Lebensunfähigkeit. Wenn die „natürliche Selektion“ nicht funktioniert, das ist der Schluß, den die Genetiker aus ihren neuen Befunden Roth zufolge gezogen haben, muß, zur dauernden Erhaltung der Lebensfähigkeit einer Gattung, ein „ausmerzendes Naturprinzip“ an ihre Stelle treten. Ihm gelingt auch der Nachweis, daß die Genetik des Dritten Reiches international fest verankert war. Die neue populationsgenetische Doktrin setzte sich auch in der Sowjetunion, in den USA, England oder Frankreich durch – war dort politischer allerdings weitgehend isoliert, so daß sie nicht die verheerenden „bevölkerungspolitischen“ Konsequenzen entwickeln konnte, wie die Genetik in Deutschland.
Roths Aufsatz ist ein brillantes, gut lesbares Stück Wissenschaftsgeschichte, das seine Brisanz daraus zieht, daß es die Wechselbeziehung zwischen Politik und Forschung in den Mittelpunkt stellt.
Komplettiert wird der Band, der wohl das beste und materialreichste ist, was es zu diesem Thema überhaupt gibt, durch drei vorwiegend historisch orientierte Artikel: Annegret Klevenow weist in ihrem Beitrag über die „Kongresse für Sexualreform 1921 bis 1930“ die Anfälligkeit auch „fortschrittlicher“ Sexualwissenschaftlicher für rigide bevölkerungspolitische Maßnahmen nach, wie z.B. eugenisch indizierter Abtreibung oder Zwangssterilisation; die Herausgeberin des Bandes, Heidrun Kaupen-Haas, berichtet über das Wirken der Bevölkerungsplaner im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik im Dritten Reich und Sabine Schleiermacher hat das bevölkerungspolitische Programm der Inneren Mission unter die Lupe genommen. Oliver Tolmein
Heidrun Kaupen-Haas (Hg.), Der Griff nach der Bevölkerung – Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Delphi Politik, Greno Verlag, 180 Seiten.
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