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Neue Viren braucht das Land

■ Für Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen soll „Akzeptanz“ geschaffen werden

1988 ist ein entscheidendes Jahr für die Zukunft der Gentechnik. Die ersten Freisetzungen sind in der Bundesrepublik geplant. Sorgen bereitet nur noch die ungenügende „Akzeptanz“ in der Bevölkerung. Gestern lud Gesundheitsministerin Süssmuth die Experten zur Anhörung (siehe Seite 1). Vergangene Woche hatte das Bundesgesundheitsamt über die Risiken diskutieren lassen.

Dr.Frommer von der Bayer–AG verstand die ganze Aufregung nicht: „Was ist denn eigentlich neu? Was tun wir denn Böses, was die Natur nicht auch tut, und was ist daran gefährlich?“ Ob ein Organismus gentechnisch verändert werde oder durch natürliche Prozesse, spielt für den Bayer–Mann keine Rolle. Ken Timmis, Champion der europäischen Molekular–Biologen, ging noch einen Schritt weiter. Für ihn ist die Gen–Technik nicht nur „nichts Böses“, sondern eine Chance für die Menschheit. Hören wir ihm zu: „Es gibt eine Reihe von Menschen in diesem Raum, die an Krebs sterben werden. Es gibt Menschen, die den Krebs schon in sich tragen. Und es gibt eine große Anzahl von Krankheiten und menschlichem Leid, die mit herkömmlichen Mitteln nicht behandelt werden können. Millionen Menschen werden leiden und sterben. Man könnte ihnen helfen. Bestimmte Impfstoffe gegen diese Krankheiten sind aber nur mit der Gen–Technik herzustellen. Wir können nicht auf ein Null–Risiko für diese Technik warten.“ Das Raunen im Saal war nicht zu überhören. Timmis Plädoyer für die Gen– Technik und die Freisetzung ihrer Produkte in Medizin, Pflanzenschutz, Bodensanierung u.a. gehörte zu den „Highlights“ eines zweitägigen Symposiums über die Risiken genetisch veränderter Viren vergangene Woche in Berlin. Die Veranstaltung bot einen schönen Einblick in die Denkstrukturen und Argumentationsmuster der Gen–Ingenieure. Sie offenbarte zugleich die wichtigsten Anwendungsfelder für künstlich erzeugte Viren. 1988 gilt als entscheidendes Jahr: Die 800 gentechnischen Labors der Bundesrepublik warten auf grünes Licht für die ersten Freisetzungen von künstlich erzeugten Viren. Ein zentraler Tummelplatz für die neugeschaffenen Labor–Produkte soll der „Umweltschutz“ sein. Überall, wo Mutter Natur mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten überfordert ist, wo langlebige hochgiftige Stoffe nur über Jahrzehnte oder Jahrhunderte abgebaut werden oder wo die Natur über keinerlei Abbaumöglichkeiten verfügt, soll der „evolutionäre Prozeß beschleunigt“ und künstlich erzeugte Mikroorganismen zum Abbau der Supergifte eingesetzt werden. „Wir müssen den Organismus ein bißchen hinbiegen, daß er optimaler ist“, beschrieb der Wuppertaler Professor W.Reineke eindrucksvoll das Ziel der Forschung. Möglich ist alles: Selbst Dioxine sollen die im Labor maßgeschneiderten Mikroorganismen Schritt für Schritt umwandeln und abbauen. Weniger Giftiges wird von Spezial–Konstruktionen ohne Umwandlung schlicht und einfach aufgefressen. „Wir können einen Organismus hinkriegen, der sehr schön auf Chlor–Benzol wächst“ und der dieses Gift „verwertet“, freute sich Reineke. Er sieht bei Chemie–Störfällen, industriellen Abwässern oder bei den über 30.000 Altlasten im Lande „gute Möglichkeiten für den Einsatz von Bio–Technologie“. Die gentechnisch konstruierten Organismen würden den Abbau der Gifte entscheidend beschleunigen und somit die „Anlaufphase für einen neuen Ausstoß (an Gift) reduzieren“. Schön gesagt. Probleme sehen Reineke und seine Mitstreiter, weil bei dem Abbau der Gifte auch „unerwünschte Abbauwege von hoher Toxizität“ entstehen. „Sind die unerwünschten Abbauwege steuerbar oder bricht Ihnen im ungünstigen Fall das Klärwerk zusammen?“, kitzelte die Hygienikerin E.Seeber vom Bundesgesundheitsamt (BGA) den Referenten. Sie wollte noch mehr wissen: Wie reagiert der neukombinierte Organismus in einer Kläranlage mit all den anderen Stoffen? Besteht die Gefahr einer unkontrollierten Massenausbreitung? Was ist mit der Resistenz, dem Nachweisverfahren und der Pathogenität dieser Organismen? Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. „Wir wissen vor allem, daß wir nichts wissen“, faßte J.Hahn, Wasserkundler vom BGA, die Situation zusammen. Für ihn sind die ökologischen Risiken einer Freisetzung von nicht rückholbaren, neukombinierten Organismen nicht kalkulierbar. Den Einwand, daß die Gentechnik letztlich etwas völlig Natürliches sei, konterte Hahn mit dem Hinweis, daß auch in der Atomtechnik lediglich natürliches Uran etwas angereichert und gespalten werde. Damit hatte er ein böses Wort ausgesprochen, denn den Vergleich mit der Atomenergie trifft die Branche mitten in die DNS. Unzulässig sei dieser Vergleich, damit würden nur Ängste geschürt, giftete der Marburger Virologe Roloff Johannsen zurück. Johannsen will die Ziele der Gen–Technik eher im Zusam menhang mit den großen Erfolgen der Medizin–Geschichte genannt wissen. Durch den Polio–Impfstoff sei zum Beispiel die Kinderlähmung in Deutschland praktisch verschwunden. Wollten die Kritiker solches verhindern? Oder wollten sie wirksame gentechnische Strategien gegen Aids blockieren? „Wenn ich etwas Vernünftiges gegen Aids finde, kann ich doch nicht fünf Jahre warten“, argumentierte der Bayer–Vertreter H.Frommer gegen das von der Enquete–Kommission des Bundestages vorgeschlagene fünfjährige Moratorium für Freisetzungen. Die Forderung nach einer fünfjährigen Galgenfrist für die Natur fand bei den Skeptikern und Kritikern breite Unterstützung. Auch ohne Freisetzungen gebe es für die Gen–Technik in den nächsten Jahren „noch genug Möglichkeiten, wo man Geld verdienen kann“, sagte der Hamburger Botaniker Prof.Adolf Weber spitz. Geld verdienen kann und will man auch im „Pflanzenschutz“. Schädlingen soll nicht mehr mit Giften, sondern mit Spezial–Konstruktionen von Viren das Licht ausgeblasen werden. Der Zug ist längst abgefahren. J.Huber von der Darmstädter Biologischen Bundesanstalt berichtete, daß weltweit bereits „ein Dutzend Präparate auf der Basis von Baculoviren“ auf dem Markt sind. In den USA seien vier, in Kanada drei und in Großbritannien ein Mittel zugelassen. Huber betonte die „Wirtsspezifität“ dieser Viren: Sie seien für andere als den Ziel– Organismus ungefährlich. Ein gewisses biologisches Restrisiko bleibe allerdings auch hier, denn die Übertragbarkeit der Viren auf andere Organismen könne natürlich nicht an der gesamten Fauna untersucht werden, „das ist ganz einfach undurchführbar“ (Huber). Huber sieht die Chance, mit den Insektenviren „unnötige Belastungen der Umwelt durch Pflanzenschutzmittel zu vermeiden“. Ein Verbot für neukombinierte Viren im Pflanzenschutz oder in der Bodensanierung ist in der Bundesrepublik nicht zu erwarten. Dies machte der Vertreter des Süssmuth–Ministeriums, G.Schubert deutlich. Das Ministerium gebe dennoch der Gefahrenabwehr und dem sozialen Frieden bei seinen Entscheidungen Priorität. Man rechne in den nächsten Jahren mit „einer großen Zahl von Freisetzungen“. Die meisten Fälle seien aber unproblematisch. Um die Diskussion über die Gentechnik unproblematisch zu halten und um eine größere Akzeptanz zu erreichen, machte Prof.Weber den Veranstaltern vom BGA abschließend den Vorschlag, doch beim nächsten Mal auch Umweltgruppen einzuladen. „Man kann mit diesen Leuten reden, dann haben wir auch keine Bombenleger zu befürchten“. Manfred Kriener

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