: Das Ideal vom „Sozialismus in einem Land“
Nach der Revolution entließen die Bolschewiki zwar Finnland in die Unabhängigkeit und sie mußten Polen und die baltischen Länder freigeben. Aber dank Stalin umfaßt die heutige Sowjetunion im wesentlichen das Territorium des zaristischen Rußland von 1914. Mit den Problemen, die ein derart heterogenes Großreich zwangsläufig aufwirft, muß sich Moskau nun auseinandersetzen. Lenin unterschied zwischen einem guten Nationalismus der unterdrückten und einem bösen Nationalismus der herrschenden Völker. Er geißelte daher den russischen Chauvinismus und empfahl taktische Bündnisse mit nationalen Befreiungsbewegungen. Der Hinweis auf die soziale Revolution, dann, wenn „die Bedingungen herangereift“ waren, konnte aber deren Sieg nicht ersetzen. Daher wurden bürgerlich–nationalistische oder gar bolschewistische mit nationaler Tendenz wie in Turkestan, Georgien oder der Ukraine nach dem Bürgerkrieg liquidiert. Das Ideal war zunächst ein Staat gleichberechtigter Nationen. Das aber setzte voraus, daß alle wirtschaftlich, sozial und kulturell auf das gleiche Entwicklungsniveau zu heben waren. Die noch schriftlosen Völker, gleich welcher Größe, wurden intensiv gefördert. Die Alphabetisierung wurde vorangetrieben, ein nationales Bildungswesen aufgebaut, Diskriminierungen beseitigt. Die Schriftsprachen wurden, soweit sie nicht schon traditionelle Literatursprachen waren, eng den gesprochenen angeglichen. So entstanden möglichst kleine Einheiten ohne Dialekte. Herrschaftstechnisch war das ein Vorteil. Das in den Verfassungen von 1922 und 1936 verankerte Recht der Sowjetrepubliken, aus der Union auszutreten, war zwar von Anfang an fiktiv. Zugleich aber bot es, wie auch die Fülle Autonomer Republiken, Gebiete oder Kreise, den vielen Nationen einen institutionellen Schutz. Eine gewisse Absicherung bewirkten auch Quotenregelungen, durch die Angehörige der jeweiligen Völker in „ihren“ Gebieten beim Hochschulzugang oder der Besetzung von Leitungspositionen bevorzugt wurden. Aber die Politik wurde dennoch in Moskau gemacht. Russisch sprechen der zentrale Parteiapparat, die Regierung, die Planungsbehörden und die Armee. Russisch sprechen die Litauer mit den Kasachen. Russisch schreiben lettische Biologen, die außerhalb Lettlands auf Leser hoffen. Nur die Russen selbst müssen keine Fremdsprache lernen, um überall in der Union leben zu können. Eine Tendenz zur Russifizierung entsteht also aus der Konstruktion des Ganzen fast von selbst. Spätestens seit Stalin gibt es aber auch eine aktive Russifizierungspolitik. Sie begann zaghaft 1925 mit der Verkündigung der Parole vom „Sozialismus in einem Land“, verstärkte sich in den 30er Jahren und erreichte ihren Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 50er Jahren. Rußland war nun Mutter der Kultur und Lichtbringerin aller anderen Nationen. Die sowjetische Geschichte war glanzvolle Fortsetzung der russischen. Der öffentliche Kotau vor dem großen russischen Volk, seiner Sprache und Kultur gehörte seit Stalins Spätzeit zum Ritual aller Staatsreden von Nichtrussen. Noch Ende der 70er Jahre mußte ein tadshikischer Gelehrter, der auf mögliche mittelasiatische Quellen der altrussischen Epen hingewiesen hatte, öffentlich widerrufen. Damit wurde auch das Ziel sowjetischer Geschichte deutlich: Das allmähliche Zusammenwachsen der brüderlich geeinten Nationen zu einem einheitlichen Sowjetvolk war ein Assimilationsprogramm. Dieser nationalistischen Tendenz stand allerdings immer auch eine liberale gegenüber, die sich mit derartigen Prognosen zurückhielt. Aber auch sie blieb hart in der Frage des Bestandes der Union. Wer sich zu Unabhängigkeitsforderungen vorwagte, erfuhr scharfe Repression. Erhard Stölting
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