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Das Ende der Bahn ist aller Laster Anfang

Die Toten der Tanklaster-Explosion von Herborn waren noch nicht begraben, da wurde die Bundesrepublik von einer Sicherheitsorgie überrollt, wie sie nur Katastrophen auslösen können. Verbände und Politiker aus allen Lagern bimmelten manisch Alarm und forderten Nachrüstung bei den Lastern und eine Verschärfung der Gefahrgut-Verordnung. Und der Ruf nach einer Umverteilung der Transporte von der Straße auf die Schiene erschallte verzweifelt quer durch die Republik. Unter dem Zwang der Katastrophen-Bewältigung schritt Verkehrsminister Jürgen Warnke (CSU) zur Tat, novellierte die Gefahrgut-Verordnung und initiierte einen Maßnahmen-Katalog, um sieben Millionen Tonnen gefährlicher Güter von der Straße zu holen.

Ein Jahr danach ist der Tanklaster-Alltag wieder eingekehrt. Die Lkw-Lawine rollt, und die regelmäßigen Berichte über Unfälle landen, sofern nicht gerade ein halber Ortsteil in die Luft fliegt, auf dem großen Informationsmüllhaufen, der Rest ist Statistik. Die allerdings hat es in sich. Die neuesten, noch unveröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden belegen tatsächlich eine Umverteilung der Gefahrgut-Transporte. Allerdings in die umgekehrte Richtung: von der Schiene zur Straße. Die Wiesbadener Rechnung für Januar bis September 1987 bestätigt den seit Jahrzehnten erkennbaren Trend. In diesem Zeitraum ging das Aufkommen an transportierten chemischen Erzeugnissen bei der Bahn auf 15,0 Millionen Tonnen zurück (-2,2 Prozent). Die Straße verzeichnet einen weiteren Anstieg auf 32,2 Millionen Tonnen (+3,6 Prozent). Bei Mineralstoffen, Erdöl und Erdgas mußte die Bahn Einbußen von 6,3 Prozent hinnehmen, die Straße hatte nur ein Minus von 1,7 Prozent. Und auch für das Jahr 1988 erwarten die Statistiker keine Wende, sondern neue „Wachstumsimpulse“ für den Lkw-Verkehr.

Ulrich Funk, Sprecher der Frankfurter Bundesbahn-Direktion, bestätigt den Negativ-Trend für sein Unternehmen: „Da hat sich nichts bewegt. Dafür sorgt die Bundesbahn allerdings auch selbst. Nur wenige Wochen nach dem Unglück von Herborn kündigte sie ein umfangreiches Harakiri an, mit dem jeder vierte Güterbahnhof wegrationalisiert wird. Die Umweltverbände raufen sich die Haare.

Der ökologisch orientierte Verkehrsclub VCD geißelt die Wettbewerbsverzerrung zwischen Bahn und Schiene und verlangt statt vollmundiger „Beruhigungsbeschlüsse“ a la Warnke endlich eine Schwerverkehrsabgabe für die schweren Brummer wie in der Schweiz sowie die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips für milliardenschwere Straßenschäden, Lärmstreß und Luftverschmutzung. Würde man diese gesellschaftlich getragenen Kosten dem Lkw-Verkehr auf die Mineralölsteuer draufschlagen, der Dieselpreis spränge nach Rechnung des VCD auf satte drei Mark - und die Bahn wäre konkurrenzfähig.

Doch solche Rechnungen sind der Stoff aus dem die Öko -Träume sind. Statt dessen werden die Marktchancen für die Laster immer besser. Mit dem EG-Binnenmarkt, der 1992 die Grenzen und Zölle beseitigen soll, fällt eine weitere Schamgrenze. Die EG-Kommission will dann das System bilateraler Genehmigungen, Kontingentierungen und Konzessionen für den grenzüberschreitenden Verkehr abschaffen und den europäischen Markt für alle Spediteure öffnen. Der Schwerlastverkehr wird sprunghaft ansteigen. Harry Assenmacher vom VCD zu den Konsequenzen für die Bahn: „Die machen dann am besten ihren Laden dicht“.

Jede weitere Zunahme des Schwerverkehrs wird sich vor allem in der Unfallstatistik ablesen lassen. Wie der Heidelberger Verkehrsexperte Dieter Teufel in „Natur“ vorrechnet, verursachen die Lkw, die nur vier Prozent aller Kraftfahrzeuge ausmachen, 20 Prozent aller Unfalltoten. Bei einem Crash mit den liebevoll „Brummi“ genannten 30- oder 40 -Tonnen-Ungetümen bleibt den schwächeren VerkehrsteilnehmerInnen keine Chance. Seit Herborn starben auf westdeutschen Straßen 1.500 Personen bei Lkw-Unfällen vier Menschen pro Tag. Wichtigste Unfallursache mit 38,5 Prozent: zu hohes Tempo der Laster.

Tempoüberschreitung ist das chronische Übel. Solange in der Branche Zeit bares Geld ist, wird gnadenlos auf die Tube gedrückt. Aber es ist nicht nur die Raserei. Bei 4.500 Gefahrgut-Transportern stellte die Polizei in Nordrhein -Westfalen bei jedem fünften Fahrzeug technische Mängel fest oder erwischte den Fahrer bei überzogenen Lenkzeiten. In Baden-Württemberg lag die Sünder-Quote im allgemeinen Lkw -Verkehr noch höher: 41 Prozent von 20.600 überprüften Lastern mußten - wenige Monate nach Herborn - beanstandet werden. Und noch eine Horror-Zahl: Die ÖTV fand heraus, daß schon jeder zweite Lkw-Fahrer am Steuer eingeknackt ist. Die Verschärfung der Vorschriften bringt da wenig. Kameras als Rangierhilfen, Anti-Blockier-Bremssysteme, Überrollbügel und anderer Sicherheitskicki sollen den unerträglichen Zustand ein wenig erträglicher machen. Die Grünen bringen es auf den Punkt: „Wir brauchen keine technische Nachrüstung, sondern eine andere Verkehrspolitik“.

Manfred Kriener

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