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An Bayerns Pranger: Die soziale Indikation

■ In Memmingen / Allgäu beginnt heute der §218-Prozeß gegen einen Gynäkologen / Von Gunhild Schöller

Was den bayrischen Abtreibungsgegnern in Bonn mißlang - die soziale Indikation per Gesetz abzuschaffen -, das wollen sie zu Hause auf kaltem Wege durchsetzen. Ihr Hebel: die Justiz. Die Exempel werden im Allgäu statuiert. Nachdem schon 133 Frauen zu Geldstrafen verurteilt sind, weil sie abtreiben ließen, steht ab heute ihr Arzt vor Gericht: der 49-jährige Gynäkologe Horst Theissen. An seine Patientinnenkartei kam die Staatsanwaltschaft auf dubiose Weise heran: nach einer Razzia durch die Steuerbehörde.

„Sind die nicht aufgeklärt? Es gibt doch Verhütungsmittel! Ich finde das furchtbar, wenn heutzutage abgetrieben wird!“ Eine 57-jährige Hausfrau aus Memmingen, der Stadt mit 37.000 Einwohnern im bayerischen Allgäu, empört sich über den Info -Tisch der örtlichen Fraueninitiative. Die meist jüngeren Frauen solidarisieren sich hier in der Fußgängerzone mit all jenen Frauen, die im Rahmen der als „Memminger Hexenprozesse“ bekannt gewordenen Strafverfahren wegen Abtreibung verfolgt und verurteilt wurden. Dafür hat die ältere Frau kein Verständnis: „Ich hab selbst vier Kinder. Das letzte mußt ich haben, als ich schon 43 war. Das war auch nicht gewollt, ich war krank, ich hab's auf den Nieren. Aber das hat mir keiner abgetrieben!“ Die Opfer, die sie selbst bringen mußte, sollen offenbar den Jüngeren nicht erspart bleiben.

„Eine Sauerei“ dagegen findet ein 39-jähriger Taxifahrer sowohl die Geldstrafen für die 133 Frauen, die bislang rechtskräftig verurteilt wurden ( zu 900 bis 3.200 Mark), als auch den Prozeß gegen den Frauenarzt Dr.Horst Theissen, der heute vor dem Landgericht Memmingen beginnt. Theissen ist der illegalen Abtreibungen in 156 Fällen angeklagt. „Ich habe selbst schon Frauen mit dem Taxi nach Holland gefahren. Das ist doch unmöglich, wenn eine Abtreibung so schwer gemacht wird“, meint der Taxifahrer. „Gemacht wird es nämlich sowieso.“ Knapp und bestimmt äußert sich eine jüngere Frau mit ihrer 3jährigen Tochter an der Hand: „Ich bin dafür, daß der Paragraph abgeschafft wird. Wenn ein Arzt, der Frauen in Not hilft, vor Gericht gezerrt wird, dann ist das Gesetz nicht in Ordnung.“

„Nach München?

Unmöglich!“

Aber was Ordnung und was Recht ist - da ist die herrschende Justiz in Bayern anderer Ansicht. Sie eröffnete - manche vermuten, auf Weisung des Justizministeriums, das natürlich dementiert - eine Serie von Verfahren. Ein beispielloser Vorgang, seit vor zwölf Jahren der §218 reformiert und die Indikationslösung eingeführt wurde. Gegen 277 Frauen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen illegaler Abtreibung ein. Alle diese Frauen waren zu dem Gynäkologen Theissen gegangen - in den meisten Fällten hatte sie ihr Hausarzt dorthin geschickt. Denn Theissen war - nach einem intensiven Gespräch - bereit, einen Schwangerschaftsabbruch auch dann durchzuführen, wenn der Instanzenweg (erst Beratung, dann Indikation und dann die Abtreibung - alles muß voneinander in Bayern „räumlich getrennt“ sein) nicht eingehalten wurde. Doch die vorgeschriebene soziale Beratung macht in Memmingen nur die Caritas (Pro Familia gibt es nicht), und dann ist kaum ein Arzt im streng katholischen Allgäu bereit, eine soziale Indikation zu bescheinigen. Frauen aus einem Umkreis bis zu 130 km kamen zu Theissen, denn er führte die Abbrüche ambulant in seiner Praxis aus. Auch das ist in Bayern nicht erlaubt, ein Abbruch darf nur stationär vorgenommen werden. Die Frauen aus Memmingen hätten dazu nach München fahren müssen, um dort für 4-5 Tage ein Bett in einer Klinik zu finden.

„Nach München gehen? Unmöglich! Was hätte ich denn da zu meiner alten Mutter gesagt, wenn sie nachfragt? Und wie hätte ich das meinen Kindern erklärt?“ Margarete R., 42 Jahre alt und Mutter von zwei fast erwachsenen Kindern, hat heute noch Angst, ihre Nachbarn oder die Verwandten könnten erfahren, daß sie abgetrieben hat. Erst als ich ihr am Telefon versichere, daß ich kein Foto machen will und alleine, also unauffällig zu ihr komme, ist sie zu einem Gespräch bereit. Den Instanzenweg hat auch sie nicht eingehalten: „Wenn ich all diese Stellen abgeklappert hätte, wäre die 12-Wochen-Frist überschritten gewesen. Danach hätt's keiner mehr gemacht.“ Wegen schwerer gesundheitlicher Risiken hatte sie - auf dringende Empfehlung ihres Hausarztes - die Pille abgesetzt. Zwei Monate später war sie schwanger. „Obwohl ich kein Kind mehr wollte - ich hätt's schon zur Welt gebracht, aber wir mußten fürchten, daß es nicht gesund ist.“ Margarete R. leidet unter Bluthochdruck und muß ständig starke Medikamente einnehmen. Ihre ältere Schwester hatte unter den gleichen Umständen - extremer Bluthochdruck, Medikamente und Injektionen - ein drittes, ein Nachzüglerkind geboren: es ist behindert, ein Epileptiker. Ihr Hausarzt schickte Margarete R. zu Dr.Theissen. „Der hat sich eine ganze Stunde Zeit genommen. Er wollte es zuerst gar nicht machen und mir nahegelegt, daß ich das Kind austrage. Aber zum Schluß hat er doch eingesehen, daß das zu gefährlich wäre.“ Der Eingriff am nächsten Morgen verlief ohne Komplikationen. Schon am Abend konnte Margarethe R. wieder ihrer Arbeit nachgehen. Niemand hatte von der Abtreibung etwas bemerkt.

Patientinnenkartei

beschlagnahmt

Doch im Herbst vergangenen Jahres rief bei ihr die Kripo an. Sie solle sofort kommen und eine Aussage machen. Eine Arzthelferin hatte ihren Chef Theissen bei den Steuerfahndern „verpfiffen“. Pro Abtreibung hatte der Arzt 200 bis 400 DM in bar und ohne Quittung genommen und diese aus naheliegenden Gründen - nicht versteuert. Die Steuerfahnder beschlagnahmten nicht nur die Patientinnenkartei, sondern reichten sie sehr gefällig an die Staatsanwaltschaft weiter. Auf den Karteikarten hatte der Arzt jede Abtreibung mit einem grünen Punkt markiert. Bei der Kripo verweigerte Margarete R. dann die Aussage. Sie wurde daraufhin vors Amtsgericht zitiert. Gegen sie selbst konnte wegen Verjährung nicht mehr ermittelt werden deshalb hatte sie auch kein Recht, die Aussage zu verweigern. Als ihr der Richter ein halbes Jahr Beugehaft androhte, gab sie schließlich nach. „Er begann, aus einem Fragebogen vorzulesen und mir diese vorgefertigten Fragen zu stellen.“

Der Fragebogen ist einmalig in der bundesdeutschen Justizgeschichte. Dreist und frech will man intime Details wissen: „Zustand der Ehe/der Partnerschaft? Dauer der Beziehung von ... bis ...? Hindernisse gegen Festigung der Beziehung? Brutto/Nettoeinkommen? Schulden? Entstehungsgrund, monatliche Belastung aus Zins und Tilg?“ Ein zehnseitiger Bogen, der allen Frauen zugesandt wurde, die im Prozeß gegen Theissen aussagen sollten. Die Staatsanwaltschaft will die Vielzahl der Aussagen standardisieren und damit dem Richter am Landgericht Memmingen Daten an die Hand geben. Auf daß dieser anhand der Zahlen und Daten feststelle, ob sich die Patientinnen von Theissen wirklich in einer Notlage befunden hätten. In den Verfahren gegen die Frauen am selben Amtsgericht hatten die Richter dies schon mit der stereotypen Begründung verneint, die Frau hätte das Kind doch austragen und dann zur Adoption freigeben können.

So rigide und erbarmungslos wurde am Amtsgericht Memmingen auch über Ayse Ö. geurteilt. Die 39jährige Türkin ist geschieden und lebt mit drei Kindern in einer kleinen Wohnung von 1.650 DM netto. Auch, daß der Kindsvater 1985, als sie schwanger wurde, ein verheirateter Mann mit fünf eigenen Kindern war, wog bei diesen Richtern nicht. Ayse Ö. mußte 1.600 DM Geldstrafe bezahlen. Aber damit nicht genug: kurz nach der Verurteilung bekam sie Post vom Ausländeramt: „Diese Verurteilung stellt einen Ausweisungsgrund dar“, wurde ihr mitgeteilt. Gnädigerweise sehe man davon in ihrem Fall noch einmal ab. Sie sei hiermit aber „ausländerrechtlich verwarnt“ - das „verwarnt“ war gesperrt geschrieben. Als ich sie besuche, ist sie in heller Aufregung. Sie hat schon wieder einen Brief von der Staatsanwaltschaft bekommen. Diesmal verlangt man von ihr, ihre Lohnbescheinigung vorzulegen und alle Sparbücher oder Kreditunterlagen offenzulegen. „Ich habe einen Sparvertrag. 10.000 DM, für die ich lange gespart habe. Will man mir die jetzt wegnehmen?“ fragt sie ängstlich. Ich versuche ihr zu erklären, daß das nicht passieren wird. Daß die Richter im Verfahren gegen Dr.Theissen noch einmal mit diesen „Belegen“ darüber befinden wollen, ob bei ihr eine soziale Notlage vorgelegen habe. Doch ich kann sie nicht beruhigen, sie versteht das nicht. Ich kapituliere und verstehe: Es ist unverständlich.

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