: Weiße Felsklippe
■ Ein Denkmal schon am Tag der Eröffnung: In Essen wurde das Aalto-Theater mit den "Meistersängern" eingeweiht
Der Hamburger Bildhauer Ulrich Rückriem hatte die Gestaltung des Zugangsweges übernommen: stattliche Steinquader begrenzen den Rasen und säumen den Weg zum Hauptportal des neuen Essener Prachtbaus. „Die türkisfarbenen und von mineralischen rostroten Ausblühungen durchzogenen Steinblöcke im Rohzustand wirken spannungsreich mehrdeutig. Man kann in ihnen Denkmale allgewaltiger Natur sehen“, schwärmte ein Architektur-Enthusiast vorab, „oder die Reste einer archaischen Kult- und Weihestätte.“
Den Leuten allerdings, die am vergangenen Sonntag hinter das rotweißrote Plastikband verbannt wurden, war die Allgewaltigkeit der Natur so gleichgültig, wie sie die Kult und Weihestätte provozierte. Knöcheltief in der aufgeweichten Wiese stehend, forderten ein paar Dutzend Grüne und Falken die Verwendung der Operngelder für „alle sozialen Randgruppen“. Ohne von den „Ausblühungen“ des gegenwärtigen Musiktheaters Notiz zu nehmen, verlangen sie nichts von der Kultur als eine Umverteilung zugunsten der Gruppen, für die sie sprechen. Dabei würde der Protest brisant, wenn er auf Form und Inhalte, auf Sedativwirkung, Ausverkaufsmentalität und Gesinnungshuberei beim institutionalisierten Theater zielte. Der Einspruch der Essener, die sich in den Regen stellten, blieb - anders als vor zwei Jahren das Mißbehagen vieler Nachbarn der neuen Amsterdamer Oper - harmlos und freundlich. Als fruchtlos gegen die in Marmor, Beton und Eisen gefaßte Macht des Faktischen erwiesen sich beide Formen der außerkulturellen Opposition.
Unruhe hatte es in Essen im Vorfeld des festlichen Ereignisses aus einer ganz anderen Ecke gegeben. Die selbsternannten Hüter des angeblich guten Geschmacks, die hochherzigen Freunde des ächt originalen Richard Wagner, liefen gegen das Plakat für die Eröffnungspremiere Amok: „Gräßlich“, „widerlich“, „abscheulich“, wie für „eine weitere Folge von Rambo oder Tatort“ geschaffen erschien dem kerngesunden Teil des Volksempfindens der Plakat-Entwurf des Berliner Malers Johannes Grützke. Der hatte nichts anderes so gut er eben konnte - getan, als den von der Inszensierung ganz und gar in den Mittelpunkt gerückten Meister Sachs mit alkoholgeprüfter Handwerkernase im Gesicht und abgelaufenem Schuh in der Hand zu malen. Und zwar bei der von Wagner ihm zugedachten hauptsächlichen Verrichtung, also mit dem zum Tönen geöffneten Mund: „Wahn, Wahn! Überall Wahn! Wohin ich forschend blick‘ in Stadt- und Weltchronik!“ (Dieser geniale Reim, stammt aus der ersten Szene des dritten Aktes). Die leichte Brise Neoexpressionismus, die kleine Portion bunte Grützke war schon fast zuviel für die stickiche Luft des Essener Opern-Lebens.
Dann wurde das eingeweiht, was der Oberbürgermeister ein „Bürgerhaus“ nannte: das von Alvar Aalto aus Helsinki 1959 entworfene Theater. Der finnische Staatspräsident, der Herr Bundespräsident (für dessen Auftritt den handverlesenen Gästen schriftlich das „Erheben“ verordnet wurde), der Landesvater etc. etc, gaben sich die Ehre. Der Essener OB wünschte sich und uns, daß im neuen Prunkstück nun auch „ein starkes Stück Kultur“ entstehen möge. Der Wunsch ist berechtigt. Denn eingezwängt von Sparmaßnahmen, gegängelt von Sozialpolitikern und in Atemnot gebracht vom Spießer -Mief dümpelte das Musiktheater in der viertgrößten Stadt der Republik bestenfalls in Mittelmaßen dahin. Das Orchester ist nicht schlechter als die in den benachbarten Städten, aber auch nicht gerade zum Vorzeigen. Die Inszenierungen blieben matt, bieder-konventionell, konformistisch. Es wurde redlich versucht, dem Wunsch nach dem schönen Schein mit bescheidenen Mitteln nachzukommen.
Das soll nun anders werden, zumindest partiell. Die neue Hülse wird freilich kaum ein Geschoß in die Zukunft ummanteln, bestenfalls eines Nachzüglers Aufholbemühungen. Gerühmt wird, seit der Rohbau steht, die „formale Geschlossenheit“ des Opernhauses, das nun wie eine weiße Felsklippe aus dem grauen Gemisch der ansonsten öden, leeren, gesichtslosen Architektur in der Essener Innenstadt ragt. Einer Reise nach Delphi (zum Orakel) verdankte Alvar Aalto die Ideen für dieses Theatergebäude: Amphitheater und kahler Berg, der auf der einen Seite flach ansteigt, auf der anderen steil abfällt. Wie Scharoun, so gehörte auch Aalto zu den Verfechtern der Idee des „organischen Bauens.“
Sie hat, mit einem Vierteljahrhundert Zeitverzögerung, nun zu einem ansehnlichen Ergebnis geführt. Als der Architekt 1976 starb, hatte sich noch kein Bagger in Essen in Bewegung gesetzt, weil das Projekt zunächst einmal in den Maschen der deutschen „Theaterbau- und Versammlungsstättenverordnung“ hängenblieb. Zudem gingen die fetten Jahre der Stadt und ihrer Region zu Ende. Vor fünf Jahren entschloß man sich, um die Bauwirtschaft zu beleben, doch zur Realisierung des Projekts. Aaltos „ästhetisches Konzept blieb dabei vollständig gewahrt“, wurde immer wieder versichert. Die genial einfache Konstruktion und die sanft geschwungenen Linien des Äußeren oder des Foyers, die Einkerbungen der Ränge und das breit ausladende Parkett, aber auch die Treppen und Leuchten, Geländer und Sitzgelegenheiten wurden nach den Entwürfen des Wettbewerbsiegers von 1959 ausgeführt: alles getragen vom entwickeltsten Geist der Nachkriegsmoderne.
Dies Theater ist ein Denkmal bereits am Tag der Eröffnung. Die „formale Geschlossenheit“ beeindruckt. Doch mittlerweile ist eben dies Gütekriterium fraglich geworden: könnte nicht ein offeneres Theater, auch von seiner festgesetzten Erscheinungsform her sich öffnendes Theater mit mobilem Innenleben, den heutigen Anforderungen eher gerecht werden? 140 Millionen für die Verwirklichung eines nostalgischen Traums sind immerhin kein Pappenstiel und etwas viel Geld für eine Grabstelle der Gedenktags- und Denkmalkultur.
Der Historismus der Moderne besiegelt sich mit diesem Bau ein weiteres Mal. Man betritt ihn und glaubt, schonmal dagewesen zu sein. Das weiße Foyer und seine durchgestylte Ausstattung erinnert an die Feinschmeckerlokale der frühen Achtziger Jahre, in denen wir uns so wohl gefühlt haben. Stilistisch liegt das neue Gebäude zwischen Dortmund und Amsterdam. Das mag nicht zuletzt daher rühren, daß Aaltos einst richtungsweisende Pläne der Fachwelt bekannt waren und Folgen zeitigten. Wem die geläuterte Nierentisch-Emblematik zusagt, der wird sich hier wohlfühlen. Vorausgesetzt, die Hauptsache fällt nach seinem Geschmack aus: das Ereignis auf der Bühne.
Gut zu hören müßte es sein. Denn nach dem ersten Eindruck auf den Plätzen, auf denen ich zu sitzen kam - ist die Akustik gut. Wenn das Orchester nicht allzusehr auftrumpft, dann stimmt auch die Balance zwischen Graben und Bühne. Der Sound ist transparent, aber nicht trocken, und er begünstigt keine der um die Gunst des Publikums tönenden Gruppen.
Mit den Meistersingern ein Opernhaus zu eröffnen, ist in Deutschland verschiedentlich der Brauch gewesen - auch beim alten Grillo-Bau in Essen wurde so verfahren. Dieses Werk ist von Wagner nicht nur als „große Komische Oper“ konzipiert und betitelt worden, sondern zugleich als Manifest für eine „heil'ge deutsche Kunst“ gesetzt, als Kampfansage gegen allen „welschen Dunst mit welschem Tand“. Nicht ganz uneigennützig heißt es im Finale III weiter: „Ehrt Eure deutschen Meister, dann bannt Ihr gute Geister!“ Das Werk bekam die Rezeptionsgeschichte, die es verdiente: nach der Nürnberger Festwiese die Reichsparteitage. Nach '45 wurde entrümpelt. Und selbst die Regie-Theaterleute haben mit aberwitziger Lust noch Kontrapunkte zur breitmäuligen Musik dieser Oper gesetzt (vor kurzem Christof Nel nebenan in Gelsenkirchen).
So war der Erwartungsdruck gegenüber der Inszenierung von Jaroslav Chundela erheblich. Carl-Friedrich Oberle, der Oberausstatter, versetzte die Meistersinger von Essen (unter denen Victor Braun, Joachim Maaß-Geiger und am einen oder anderen Ort auch Norbert Orth hervorstachen) in einen schlichten, weißbetuchten Bühnenraum. Durch große Portale ist der Ausblick auf „Gottes freie Natur“ möglich: er tritt an die Stelle der recht eigentlich theaterweihrauchgeschwängerten Anfangsszene in der Nürnberger Marienkirche anno dazumal. Durch die Öffnungen dringen auch überproportionale Versatzstücke neogotischer Requisiten herein: ein fast dreistöckiger Richterstuhl für Meister und „Merker“ (dem Schiedsrichter beim Wettsingen), ein zwanzigschläfriges Bett für die Weiber von Nürnberg; ein Paradiesstiefel des Hans Sachs und die - karnevalistisch verfremdeten - Innungsabzeichen. Die Geschichte spielt, dankenswerterweise, auf dem Theater. Und, von Anfang bis Ende, im Gesichtskreis und unter Anwesenheit von Meister Sachs. Daher der Bücherberg in der Ecke. Die Bücher werden, je nach Bedarf, im Lauf des langen Abends als Sitz- oder Stolpergelegenheiten über die Bühne verteilt. Die Schuhe werden immer mehr, bis sie sich zum unsäglichen Schluß wie ein Wall zwischen das nationalistische Gegröle und die Zuschauer häufen. Dazwischen verstreut: Blumen der Liebe. Alles ist auf Sachsen zugespitzt. Es geht um den Wendepunkt in seinem Leben (alle anderen Stränge der Oper sind demgegenüber weitgehend verdrängt): er entsagt der Liebe zu Eva, weil er nicht wie einst König Marke gehörnt werden will (Tristan, ich hör dir trapsen!); er gewinnt als erster die entscheidende Erkenntnis für das ästhetisch Neue und wird dessen Förderer (der wahre Meister also).
Jaroslav Chundela verwies noch einmal darauf, daß diese Oper nicht zuletzt ein Lehr- und Reklamestück für Wagners Gesinnungen ist. Der Sehnsucht nach Butzenscheiben und säuberlichem Wagner-Historismus kamen Regisseur und Bühnenbildner nicht entgegen. Umgekehrt befriedigten sie aber auch die Wünsche nach einem provokanten Schlag gegen das vernutzte Stück und seine Erhebung zum Staatssymbol in keiner Weise. Sie suchten, prächtigen Aufwand ausstellend, den Kompromiß und schienen unablässig den zentralen Satz dieses Gesamtkunstwerkes beteuern zu wollen: „Hier gilt's der Kunst“. Durch das repetierende Anpreisen der Kunst, die auf solchen Mittelwegen wandelt, stellt sich die Gefahr ein, daß sie abhanden kommt. Denn allein das Neue, das Hinausweisende, das Aufbrechende wird schon in Bälde nur noch als „Kunst“ gelten. Nicht der Kompromiß, wie historisch er auch sein mag, und schon gar nicht die Routine. Die Klippe, an der das Musiktheater in Essen nun hängt, ist noch nicht genommen. Die Mittelknappheit, die kaum eine sinnvolle Bewirtschaftung des neuen Hauses zuläßt, kann die Aufwärtskrabbelnden rasch wieder abgleiten lassen. Der Mangel an ästhetischer ud politischer Risikobereitschaft aber bildet die schärfsten Kanten und steilsten Abgründe auf dem Weg zur Spitze. Aber schließlich, sagt Freund Biermann, kann keiner höher springen, als der Arsch kommt.
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