Eine Million ChilenInnen gegen ihren Diktator

Die Opposition brachte die größte Demonstration seit 178 Jahren auf die Beine Vier Tage vor dem Plebiszit droht Pinochet im Fernsehen mit dem Militär  ■  Aus Santiago Thomas Schmid

Chile erlebte am Samstag die größte Demonstration seiner 178jährigen Geschichte. Zur letzten Kundgebung der Opposition vor dem Plebiszit am kommenden Mittwoch strömten 1,2 Millionen Menschen - nach Angaben der Veranstalter - in den Süden Santiagos. Mag sein, daß es auch nur 900.000 waren - wer soll die Massen zählen? -, doch wenn die Diktatur in ihrem Fernsehen von 130.000 sprach, ist das eben nur eine Lüge mehr. Nicht mal die größte Unterstützungsdemonstration für die bedrohte Regierung Allendes, drei Wochen vor dem Putsch, nahm diese Ausmaße an, erinnern sich Santiagos alte Linke.

Um elf Uhr sollte die Schlußkundgebung beginnen. Doch anderthalb Stunden später war das Ende eines der sieben Demonstrationszüge, die sich sternförmig auf den immensen und doch bald viel zu kleinen Platz zu bewegten, immer noch anderthalb Kilometer entfernt. Ein Meer von Fahnen, rote der Sozialisten und Kommunisten, blaue der Christdemokraten, gelbe der Humanisten, schwarzrote der linksrevolutionären Bewegung (MIR), einige wenige grüne der Nationalisten, vor allem aber die blau-weiß-rote chilenische Nationalflagge und die weiße Fahne mit dem „no“, dem Nein und darüber ein Regenbogen, der alle Farben des Nein vereinigt. Nein zu Pinochet, Nein zu fünfzehn Jahren Diktatur.

Innerhalb von wenigen Minuten verwandelten Dutzende von vermummten Gestalten 100 Meter lange Mauern in Wandgemälde. Überall und immer der Ohrwurm des „alegria Ya Viene“ - „Die Freude ist schon unterwegs“. 3.000 Kilometer waren sie marschiert, von Puerto Montt im Süden wurde ein „N“ im Staffettenlauf dem „Marsch der Freude“ nach Santiago getragen, von Arica im äußersten Norden des Landes kam das „O“. Jetzt standen die beiden vier Meter großen Buchstaben zum „No“ vereint hoch oben auf der Tribüne.

Als einziger Redner trat Patricio Aylwin, Präsident der Christdemokratischen Partei auf als Sprecher des „Kommando für das Nein“, in dem sich sechzehn Parteien zusammengeschlossen haben. Der Rest war Musikprogramm. Alles, was Rang und Namen hatte, war mit von der Partie. Die Sängerin Isabel Para mit ihrem „Nein, er gefällt mir nicht. Nein, ich mag ihn nicht„; aus Spanien war Victor Manuel angereist; Manuel Serrat, ebenfalls Spanier, blieb im Flughafen von Santiago hängen, die Einreise wurde ihm verweigert, und so mußte sich die Menge mit einer auf Band gesprochenen Message begnügen; Bombenstimmung, als die weltbekannten Gruppen Inti Illimani, die Uilapayul und die Illapu, zum Teil nach 15 Jahren Exil, auftreten.

Nach dieser Millionen-Demo scheint Santiago verändert. Im Geschäftszentrum, wo bislang nur wenige ihre No-Buttons offen zu tragen wagten, applaudieren am Abend die Passanten einem Autokorso der Opposition, alle fraternisieren mit allen, als ob die Diktatur bereits gefallen wäre. Und in den Spätnachrichten meldet sich Pinochet am Fernsehschirm zu Wort. „Falls das Nein gewinnt“, sagt er, werde er als Soldat seine Pflicht erfüllen. Eine offene Drohung, doch hat der Diktator immerhin zum ersten Mal eine Niederlage in Betracht gezogen. Wenig später ist ganz Santiago schlagartig dunkel an eine Aktion der Guerilla glaubt diesmal kaum jemand. Von La Reina aus, einem Stadtteil, der sich die Andenabhänge hochzieht, sieht man über den Armenvierteln der Stadt weit oben im Dunkeln die Hubschrauber kreisen.

Santiago (afp) - Chiles Außenminister Garcia kritisierte am Samstag die ausländischen Wahlbeobachter, die sich in die inneren Angelegenheiten des Staates einmischen würden. Pinochet wiederholte vor 20.000 Anhängern in der Stadt Rangacua die Bedeutung des Referendums, in dem die gesamte in seiner Amtszeit erreichte Freiheit auf dem Spiel stehe. Die Anhänger der Regierung hatten für den Sonntag ihre Abschlußkundgebung in Santiago geplant. In einer „Siegeskaravane“ wollten sie durch die Innenstadt ziehen, um für eine Wiederwahl Pinochets zu werben.