: Erinnerungsarbeit am Schock des Pogroms
■ Der Malerin Charlotte Salomon (1917-1943) gelang in „Leben oder Theater?“ eine hochexpressive Darstellung der NS-Pogrome vom November 1938. „Leben oder Theater?“ umfaßt 1.320 Gouachen und Textseiten. Es ist eine der eindringlichsten Rekonstruktionen der jüdisch-kollektiven Erfahrungen der „Kristallnacht“. Die Deutung des Werks von Charlotte Salomon hat erst begonnen.
Bettina Decke
samten Singespiel - ein janusförmiges Profil. Dieser Kopf, der einem surrealistischen Gewächs ähnelt, blickt sowohl nach rechts zum Vater als auch nach links zur Mutter, hin und hergerissen zwischen den beidseitig ins Bild eingeschriebenen, sich widersprechenden Ratschlägen der zwei anderen Frauen. Welchem Rat Dr.Kann folgte, erfahren wir nicht. Es zählt allein, daß er verhaftet wurde. Er ist einer von 30.000 Juden, deutsche Staatsbürger, die im November 1938 erstmals, bloß weil sie Juden waren, in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gesperrt wurden. III
In Leben oder Theater? wird die Verhaftung Dr.Kanns nur indirekt dargestellt. Die Ausblendung weist auf Charlottes Schock über diese bis dahin unvorstellbare Demütigung des Vaters hin. Ebenso bilderlos bleibt gegen Ende des Singespiels ihre Erfahrung des Lagers Gurs, wo selbst eine Frau wie Hannah Arendt zum Gedanken an Selbsttötung getrieben wurde.
Der Haft des Vaters im KZ wendet sich die Malerin erst zu, nachdem sie - wie um sich einen klaren Kopf zu schaffen nicht nur ihre eigene Depression über das Staatspogrom und die Massenverhaftungen Revue passieren läßt, sondern auch die Reaktionen der ihr nahestehenden Menschen. Dabei klärt sie noch einmal ihr spannunsvolles Verhältnis zu diesen Menschen, vor allem zu Daberlohn, der sich inzwischen in den Kannschen Haushalt geflüchtet hat. Charlotte malt ihn zunächst voller Sarkasmus, mit schwarzer Brille speisend am Familientisch, wo er den Platz des verhafteten Hausherrn einnimmt. Ein „blinder“ Pascha, der sich von den Frauen versorgen läßt, scheinbar unberührt von ihren Sorgen. Paulinka, die ihm gegenüber sitzt, betrachtet ihn freundlich -gelassen, während Charlotte bläßlich und spitz zwischen ihnen hockt, von Empörung und Verlassenheitsgefühlen geplagt. Doch neben der Selbstbezogenheit Daberlohns und seiner Tendenz, Frauen als „Madonna“, Künstlerin und „ewig Weibliches“ in sein System einzubauen, vergegenwärtigt sich die Malerin seine Melancholie und seine faszinierende Kraft zur Hoffnung. Dem Pascha am Familientisch folgen ganz andere Bilder Daberlohns: Ein kleines, tieftrauriges, altes Kinderantlitz unter der Last einer Menschheit, die zu einem leibhaftigen Kreuz geworden ist. Oder Daberlohn, dem sich die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und die Verschüttung des damals 18jährigen unter einem Berg von Sterbenden und Leichen umso stärker wieder verkörpert, als er den Zweiten Weltkrieg vor sich sieht. Doch er läßt sich von seinen schrecklichen Visionen nicht ganz überwältigen, sondern beginnt ein Buch, Christus 1940, zu imaginieren, in dem er seine heilsgeschichtliche Propheterie festhalten will: „Ich seh die Zukunft der Menscheit vor mir. Viele Kreuze werden getragen. Viele werden zusammenbrechen. Nur wenige werden übrigbleiben, doch für sie ist das Leiden das schnellste Tier, das zur Vollkommenheit trägt.“ Charlotte ist zwar angezogen von dieser Fähigkeit zur Hoffnung, aber sie distanziert sich zugleich nicht ohne Sarkasmus. Den Satz Daberlohns: „Mein nächstes Buch wird sein Christus 1940, setzt sie in das Bild über seine grauenvollen Kriegsvisionen hinein. Dabei verfremdet sie diesen Satz derart, daß deutlich wird: die Buchpläne des Philosophen sind ebenso hinfällig wie Christus als Symbol des Leidens und der Rettung.
Überhaupt zeigen die Szenen, die zwischen der Verhaftung Dr.Kanns und den KZ-Bildern liegen, wie heroisch oder kleinlich, in jedem Fall meist unangemessen, Menschen in einer Krise, die alles in Frage stellt, an ihren überkommenen Gefühls- und Symbolwelten, Selbststilisierungen und Illusionen festhalten können. Ihre Leidenschaft wird durch die Schrecken des Pogroms empfindlicher denn je, so daß der Vater im KZ (zunächst) in den Hintergrund rückt.
Diese Bildfolge enthält zugleich eine letzte große Hommage an Paulinka. Die überaus geliebte und bewunderte Zweitmutter und Sängerin besitzt genügend Autonomie, um sich sofort darauf zu konzentrieren, Dr.Kann frei zu bekommen. Andere Berichte zeigen, wie mutig sich viele jüdische Frauen nach der Verhaftung ihrer Männer für deren Befreiung bei den Gestapozentralen einsetzten. Trotz ihrer Nervösität kümmert Paulinka sich auch um Charlotte und Daberlohn. Als Sängerin, Ehefrau, Mutter und Aktivistin der Jüdischen Selbsthilfe (nach 1933) ist sie geübt in schwierigem Spagat. Charlotte widmet Paulinka unter anderem ein sehr anrührendes Portrait.
Mit Paulinka tauchte im Singespiel erstmals ein Hinweis auf Jüdisches auf, vor allem auf den Davidstern, ein ebenso seltenes wie bedeutungsvolles Symbol dieses Werkes. Paulinkas Vater war Rabbiner und Kantor in einer deutschen Kleinstadt, und in Charlotte Kanns stark assimiliertem Milieu erscheint Pauline als einzige Person, die jüdischer Lebenspraxis entstammt. Auch ihr Aufstieg als Sängerin in die Künstlerelite der Metropole Berlin enthält einen Faden jüdischer Kontinuität: der in der Synagoge singende Vater und die Musik, über die Daberlohn einmal bemerkt, sie sei der „ausgleichende Pol“ zur Bilderlosigkeit Gottes im Judentum. Vermutlich auch deshalb wählte Charlotte für ihre gemalte Biographie, die sie als Weg der Selbsterkenntnis und Selbstheilung verstand, die Form des Singespiels. IV
Die Haft des Vaters im Konzentrationslager Sachsenhausen wird in drei Bildern dargestellt. Ihre Ausführung ist extrem sparsam und konzentriert (ähnlich manchen Erfahrungsberichten über die deutschen Konzentrations- und Todeslager). Der Bildhintergrund, vor dem sich die Figuren der Häftlinge und der Täter abheben, ist von einem äußerst blassen Grau-Blau: eine helle, eisige Fläche. Es war ja November, die Häftlinge hatten weder warme Kleidung noch Betten; Essen und Wasser waren miserabel und extrem knapp, dazu härteste Arbeiten im Freien oft mehr als 10 Stunden lang. Charlotte malt den KZ-Häftling Dr.Kann. Ein kleiner, gebeugter Mann, sein Körper ähnlich einem Klumpen Erde, hantiert unbeholfen mit einem Spaten; der plumpe Stil des Geräts ist fast verschmolzen mit den Armen und Händen des Gefangenen. Es gibt zwar die Andeutung eines Haufen Sandes, doch der Spaten geht ins Leere. Die Beine des Häftlings sind zu einem Stumpf geschlossen, als müßten sie einander stützen und könnten nur so den Körper noch tragen. Daß die Malerin den Häftling ohne Schuhe und Füße darstellt, steigert den Eindruck von Erstarrung und Ermattung. Die Größenunterschiede und die verquere Perspektive bezeichnen das Machtverhältnis.
Mit dieser Gouache beginnt das „3.Kapitel“ des „Neuen Abschnitts“ im Hauptteil des Singspiels. Es trägt die Überschrift „Der Vati“. So nennt Charlotte ihren Vater sonst nie. Dann folgt der Text: „Inzwischen wird der ehemalige Herr Professor Doktor med.Kann zu schweren Arbeiten herangezogen.“ Auch der volle Titel des Vaters erscheint erstmals an dieser Stelle. Die zärtlich-familiale und die volle akademische Bezeichnung umschreibt einerseits die ganze Spanne der Enteignung der Person im Konzentrationslager. Andererseits ist sie ein symbolischer Protest gegen die Macht des Lagerobersten, der dem Häftling ohne jegliche Anrede, ihn als Person negierend, den Befehl erteilt: „Hier wird gearbeitet und nicht gefaulenzt.“
Vielleicht am erschreckendsten ist gerade jenes Bild, auf dem der Lageroberst dem Gefangenen die Entlassung meldet. Als eine blasse, fast durchsichtige Gestalt steht oder besser hängt der Häftling im Leeren. Die äußerste Schlichtheit und Zartheit dieser Gestalt erinnert an die Verletzbarkeit des Leibes, die dem Menschen bleibt, wenn ihm alles andere genommen ist. Der Kopf, kahlgeschoren und im Profil, ist sehr steil aufgerichtet: Unter großer Anstrengung bemüht sich der Gefangene die Nachricht des Lagerobersten zu erfassen, das Ohr ist entsprechend groß gezeichnet. Der Eindruck von Apathie und Schwäche wird dadurch verstärkt, daß Charlotte Salomon die rot und fett ins Bild eingeschriebene Nachricht des Lagerobersten, „Sie können gehen. Sie sind entlassen“, mit kleinen Pfeilen versieht, die jeweils vom „Sie“ der Anrede zum Kopf des Häftlings weisen. Es scheint, als wolle sie dem Gefangenen mit den Pfeilen helfen, sich von neuem als Person zu begreifen, die angesprochen werden und handeln kann.
Der Lageroberst ist ein großes eckiges Gestell. Er hat weder Augen, Mund noch Ohren. Die Nase springt spitz hervor. Sie ist ein Stück der Uniform, so wie der ganze Kopf, der die gleiche rötlich-braune Färbung besitzt wie sein übriges Outfit. Beflissen-bieder hält er ein großes Blatt Papier in den zackigen Händen: Einer der selbst den einfachsten Befehl abliest und sich sorgfältig an Listen und Verordnungen hält. Austauschbar ist er mit jenem NS-Funktionär, der gutmütig auf Paulinka herablächelt, als sie um die Freilassung ihres Mannes kämpft. Im Hintergrund des Entlassungsbildes sind, bloß in bruchstückhaften Konturen angedeutet, andere Häftlinge zu sehen, Zeichen, daß viele Gefangene des Pogroms nicht so früh entlassen wurden wie Prof.Dr.Kann, oder schon vor Beginn des systematischen Judenmordes in den KZs zu Tode gebracht wurden.
Charlotte Salomon stilisiert die KZ-Schergen nicht zu Bestien und Teufeln, obwohl ihr die brutale Mißhandlung und Erniedrigung der Häftlinge durchaus bekannt war. Auch an Vorstellungskraft mangelte es ihr nicht. Vermutlich gerade deshalb enthält sie sich aller bekannten Bilder und Metaphern des Schrecklichen, hat sie etwas vorformuliert von Hannah Arendts „Banalität des Bösen“, oder davon, was Richard Glazer, Überlebender von Treblinka, der Journalistin Gitta Sereny über die SS in dem Todeslager sagte: „Man muß alles, was diese Männer taten, immer gegen den Hintergrund der tiefen und ausgeprägten Gleichgültigkeit messen, die sie uns gegenüber empfanden. Es war natürlich mehr als Gleichgültigkeit. Aber ich nenne es das, weil ich kein anderes Wort dafür finde.“
Charlotte Salomon verzichtet in den drei KZ-Blättern auf jegliche Metaphorik und Symbolik des Leidens. Ebenso auf geschichtsphilosophische Sinngebung. Dies ist umso bemerkenswerter'als ihr solche Deutungsmuster von Daberlohn nahegelegt worden waren: Das Kreuz, der Leidensweg Christi, Vervollkommnung der Menschen durch Leiden. Doch ein Subjekt, das zu solcher Transzendierung der Erfahrung des KZ-Terrors noch fähig wäre, gibt es für die KZ-Blätter nicht. Das Antlitz des Häftlings (beispielsweise) ist bar jeglicher Individualität. Mehr noch: es trägt nicht einmal Züge des Schmerzes.
Die Ausdruckssprache des Schmerzes, (der Qual, der Verzweiflung, der Lebensmüdigkeit), behält sie jedoch bürgerlichen Extremsituationen vor, in denen, wie prekär auch immer, Privatheit, Reflexion und Kommunikation noch möglich sind. Im Konzentrationslager (ähnlich wie im erstarrten Rückzug aus dem Leben vor dem Selbstmord) wird das Gesicht leer, verliert es seine scheinbar so natürliche Fähigkeit zur Mitteilung von Affekten und Gefühlen. So hat es auch Robert Antelme beschrieben. Der KZ-Häftling Antelme betrachtet sich in einer Spiegelscherbe: „Zuerst sah ich ein Gesicht auftauchen. Ich hatte es vergessen. Ich trug immer nur ein Gewicht auf den Schultern. Der Blick der SS, ihre immer gleiche Haltung uns gegenüber bedeuteten, daß es für sie keinen Unterschied zwischen diesem oder enem Häftlingsgesicht gab... Auf der anderen Seite hatte niemand durch sein Gesicht der SS gegenüber etwas auszudrücken, das der Beginn eines Dialogs hätte sein können und auf dem Gesicht des jeweiligen SS-Mannes etwas anderes hätte hervorrufen können, als diese ständige und für alle gleiche Ablehnung. Da also ein Gesicht in unseren Beziehungen zur SS nicht nur nötig war, sondern ungewollt sogar gefährlich werden konnte, war jeder von uns bemüht, von sich aus sein eigenes Gesicht zu verleugnen... Selbst in den Beziehungen der Häftlinge untereinander blieb das Gesicht mit diesem Nichtvorhandensein belastet, war fast zu diesem Nichtvorhandensein geworden.“ Es ist schon ein Akt des Widerstandes, wenn der Häftling, einen Moment lang für sich ganz allein, sich in der Spiegelscheibe erkennen kann als „glänzendes Stück Einsamkeit“.
Auf die KZ-Blätter folgen zwei Bilder zur Heimkehr Dr.Kanns. Das zweite Bild zeigt ein kastenförmiges Bett, hineingesetzt in einen wässrig-blauen Hintergrund. In den Kissen sitzt Dr.Kann sehr aufrecht und starr, seine Augen blicken abwesend. Paulinka, Charlotte und Daberlohn umringen das Bett. Paulinka, links am vorderen Bettrand, beugt sich dem Kranken zu. Ihre Gestalt gleicht einer Woge hingebungsvoller Fürsorge. Ihre Hand und die ihres Mannes fließen, schmal wie Vogelschwingen, ineinander. Charlotte und Daberlohn, am rechten Bettrand, sind bloß als dunkle Brustbilder gemalt; vor allem Charlotte ähnelt einer bewegungslosen, archaischen Mädchenstatuette, in krassem Gegensatz zur fließenden Gestalt Paulinkas. Die Malerin hat in diese Statuette all die Jahre ihrer zunehmenden Isolierung und Verlassenheit, 1933 bis 1942, gebannt. Oder, was fast das Gleiche ist: ihre ohnmächtige Sehnsucht nach Paulinka und dem „Liebespaar unter einem Bademantel“. Die um das Krankenbett des entlassenen KZ-Häftlings zentrierte Szene ist von einer ungewöhnlichen Geschlossenheit und hat zugleich etwas Verlorenes. Das Krankenbett gleicht einer Insel im leeren Raum. Nach dem Novemberpogrom „gab es für die Juden absolut keine Aussicht mehr auf eine Fortführung des Lebens in Deutschland„6.
Nun beginnt das nächste und letzte Kapitel des Hauptteils von Leben oder Theater?. Alles dreht sich nur noch um Emigration und Charlottes „Abschied“.
Anmerkungen:
1 Diese Schreibweise benutzt Ch. S. in einem Bild, das die antisemitischen Berufsverbote von 1933 thematisiert
2 Vgl. a) Vorwort, Einleitung und editorische Notiz in: Charlotte Salomon, Leben oder Theater?, Köln und Maarsen 1981; b) Christine Fischer-Defoy (Hrsg.), Charlotte Salomon, das „Lebensbild“ einer jüdischen Malerin aus Berlin 1917 -1943, Bilder und Spuren, Notizen, Gespräche, Dokumente, Berlin 1986; c) Susanna Partsch, Charlotte Salomon, Anmerkungen zu einem Zyklus, Kritische Berichte, H.4, 1982
3 Über deutsche KZs der Jahre 1938 bis 1940 berichtet Bruno Bettelheim in „Erziehung zum Überleben“, Stuttgart 1980; vgl. auch die Berichte in Monika Richarz‘ (Hrsg.) „Jüdisches Leben in Deutschland 1918-1945“, Stuttgart 1982
4 Gitta Sereny, Am Abgrund, Frankfurt/Berlin 1980
5 Robert Antelme, Das Menschengeschlecht, München/Wien 1987
6 Peter Loewenberg, The Kristallnacht as a Public Degradation Ritual, Leo Baeck Jahrbuch London 1987
Kurz nach den NS-Pogromen im November 1938 floh die 21jährige angehende Malerin Charlotte Salomon aus ihrem Berliner Elternhaus nach Villefranche, Südfrankreich. Einige Monate später emigrierten auch ihr Vater, der Chirurg Prof.Albert Salomon, und die beiden Menschen, die Charlotte Salomon am meisten liebte: ihre zweite Mutter, die bekannte Sängerin Paula Lindberg-Salomon und der Gesangspädagoge und Philosoph Alfred Wolfsohn. Diese drei überlebten im Exil in Holland beziehunsweise Großbritannien. In Villefranche schloß sich Charlotte ihren Großeltern mütterlicherseits an, die dort bereits untergekommen waren. Der Kriegsbeginn stürzte die Großmutter in völlige Verdüsterung; sie nahm sich das Leben. Charlotte Salomon, mit neun Jahren Halbwaise geworden, erfährt nun erstmals klar und deutlich, daß auch ihre Mutter und deren Schwester Hand an sich gelegt hatten. Im Juni 1940, nach dem Eintritt Italiens in den Krieg, wurden Charlotte und ihr Großvater im Lager Gurs zusammen mit vielen Emigranten interniert. Nach einem Monat jedoch durften sie nach Villefranche zurückkehren. Charlotte ist schwer erschüttert. Um Wahnsinn und Selbstmord zu entgehen, beginnt sie, in Anlehnung an ein psychoanalytisches Leitmotiv Wolfsohns, eine Erinnerungsarbeit im Medium der Malerei: Von 1940 bis 1942 malt sie mit all ihrem Mut, ihrer Intelligenz und Kreativität das Singespiel: Leben oder Theater? Sie erzählt darin ihre Lebensgeschichte. Ihr Vater heißt Dr.Kann, die zweite Mutter: Paulinka Bimbam und aus Wolfsohn wird Amadeus Daberlohn. Im Februar 1943 stirbt der Großvater. Im Mai 1943 heiratet Charlotte, inzwischen schwanger, den jüdischen Flüchtling Alexander Nagler. Mit ihm zusammen betreut sie einige Waisenkinder. Im September 1943, nachdem die Deutschen Südfrankreich besetzt hatten, wurden sie nach Auschwitz deportiert. Dort wurden sie ermordet.
Leben oder Theater? ist eine Darstellung des 9.November 1938 wie ich kaum eine eindringlichere kenne. In dieser Rekonstruktion weiblicher Erfahrung der „Kristallnacht“ spiegelt sich zugleich Allgemeines: der schwere Schock, den das Novemberpogrom und in seiner Folge die erste jüdisch -kollektive Erfahrung des Konzentrationslagers für viele „deutsche JUDEN„1 bedeutete.
Leben oder Theater? umfaßt in szenischer Folge über 1.320 Gouachen und Textseiten, im Kleinformat von 32,5 mal 25 cm. Dieses hochexpressive, in der Kunstgeschichte wohl einmalige Werk orientiert sich auch an Filmtechnik und Comic. Es enthält theatralische Monolog- und Dialogformen und viele Literaturzitate. Die Malerei ist mit Schrift verbunden, die oft direkt ins Bild hineingesetzt ist. Außerdem ist sie mit Musik und Gesang verknüpft, für die es Regieanweisungen gibt.
Wollte Charlotte Salomon - gegen den Ausschluß der Juden aus der menschlichen Gesellschaft - ihr Recht auf die ganze Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen wenigstens im Kunstwerk verwirklichen? Die Deutung ihres Werkes hat kaum begonnen.2
I
Ein Mann und eine sehr junge Frau sitzen sich nachts am Tisch in der Ecke einer Kneipe gegenüber. Charlotte Kann und der Musikpädagoge Amadeus Daberlohn. Seine Hand liegt auf der ihren. Tiefe Violett- und Blautöne, eingesetzt und durchkreuzt von roten Strichen und Bahnen, zerwühltes Blaugrau und schmutziges Orange drücken Intensität, Spannung und Düsterkeit aus. Er philosophiert und sie hört seinem Entwurf über die „Krise unserer Kultur“ und das rettende Ideal vom „singenden Sokrates“ aufmerksam zu. Im Hintergrund rechts: der rot umrandete Schatten eines Liebespaares, eins in der Umarmung. Der ins Bild gesetzte Satz Daberlohns, „Und Sie werden erkennen, was es mit dem singenden Sokrates auf sich hat“, verbindet den Umriß der Stirn Charlottes in einem Bogen mit der Silhouette des Liebespaares: Charlotte kann von ihrer Liebe zu Daberlohn nicht abstrahieren, während er in seine Utopie der Vereinigung von Kunst und rationaler Erkenntnis versunken ist.
Das Blatt wirkt düster - es sitzen hier zwei vom Nationalsozialismus verfolgte Menschen, deren Existenz auch ohne die Bedrohung durch das NS-Regime bereits zerbrechlich genug war. Sichtbar wird zudem die ungeheure Faszination, die der „Prophet“ Daberlohn, in dessen profaner Heilserwartung weibliche Kunst eine zentrale Rolle spielt, ausübt auf die junge einsame Malerin, Tochter eines superrationalen Vaters. Unglücklich ist das Bewußtsein dieser Liebe, weil Charlotte argwöhnt, dem Philosophen bloß als Versuchsperson zu dienen: „Es scheint mir, als ob da einer mit der ganzen Welt Fangball spielt.“ Dennoch zeigt das Bild, im Standhalten gegen den Sog der Melancholie und den Antisemitismus an der Macht, ein noch lebendiges Kraftfeld des Sozialen: Gespräch, Selbstdenken, Hoffnung, Kunst, Liebe. Freilich sind sie eingezwängt in jenes gesellschaftliche Abseits, in das der Nationalsozialismus die Juden gesperrt hatte. Von diesen Reservaten hatten nicht wenige „deutsche JUDEN“ gehofft, sie könnten dort „überwintern“, sogar unter Neubelebung eines durch die Assimilation fast völlig aufgelösten Judentums. II
Der Gegensatz zur nächsten Gouache könnte schärfer kaum sein. Links ins Bild ragt eine blutrote, schlaffe Hakenkreuzfahne. Aus der Bildmitte springt eine monumentale Flugschrift in fahlem Blau entgegen: antisemitische Hetze des 9.November 1938 in Nahaufnahme. Gleichsam emporgehalten wird die staatliche Pogromandrohung von einer aufgelösten großen Menschenmenge, aus der sich Arme wie Knüppel zum Hitlergruß recken. Die brausende Bewegung der Menge hat ihren Fluchtpunkt in einer verschwommenen braunen Gestalt am oberen Bildrand.
Mit diesem Bild beginnt ein „Neuer Abschnitt“ im Hauptteil des Singespiels unter dem Motto „Und die Zeit geht weiter“: Die Nischen werden zerstört.
Das folgende Blatt stellt eine Straßenszene dar. Im Vordergrund treiben zwei grün Uniformierte drei zusammengekrümmte Menschlein mit zackigen Fußtritten voran. Auf der mittleren Bildebene drängen sich dichte Menschenklumpen, soweit ich erkenne, teils Juden, die abgeführt und malträtiert werden, teils Zuschauer, teils Aufwiegler. Dahinter plündern entfesselte Scharen jüdische Geschäfte, über denen fast aus jedem Fenster eine Hakenkreuzfahne hängt. Diese Beflaggung der Häuser, ebenso wie die nazistischen Massen auf dem vorangehenden Blatt, erinnern daran: Das NS-Regime und sein Antisemitismus verfügte über breite Zustimmung, auch wenn die „Reichskristallnacht“ kein spontanes Pogrom war und mit ihrer Verwüstung von Eigentumswerten, ihrer demonstrativen Brutalität und Unordnung kaum Unterstützung im „deutschen Volk“ fand.
Die nächste Gouache zeigt erneut Menschen um einen Tisch: Familie Kann und ihre Hausangestellte im Eßzimmer. Jede Figur wirkt einzeln und hilflos. Der Tisch ist bloß eine Fläche im perspektivlosen Hintergrund. Das Geschirr mit den unberührten Speisen scheint vom Tischtuch zu rutschen, gleich Spielzeugschiffchen in den Abgrund. Alle Figuren scheinen leicht zu schwanken. Einzig der Vater sitzt auf einem Stuhl. Er bietet einen Anblick der Verstörung. Seine Arme mit den auf den Knien verschränkten Händen sind eng an den Leib gepreßt, als könne er sich nur so zusammenhalten. Paulinka, seine Frau, und das Dienstmädchen sind ihm zugewandt. Der Vater und die Hausangestellte tragen Kleidung im gleichen Braun wie die Pogromisten auf dem vorangehenden Blatt. Verweigert die Malerin dem Nationalsozialismus die helle Definitionsmacht über diese Farbe? Das zentrale NS -Symbol jedenfalls, das Hakenkreuz, erkennt sie nicht an, verkehrt es sogar ins Gegenteil. Stets zeichnet sie es linksgerichtet als buddhistisches Zeichen für Untergang und Tod.
Angesichts der zahlreichen Verhaftungen jüdischer Männer während des Novemberpogroms macht die Hausangestellte einen einleuchtenden Vorschlag, ihre Gesichtsfarbe ist entsprechend kräftig: „Sie müssen sich verstecken, Herr Professor. Man hat schon die Hälfte der Juden der ganzen Stadt genommen.“ Doch im Jüdischen Krankenhaus, wo der Mediziner arbeitet, seit er 1933 aus der Universität geworfen wurde, warten die Verletzten des Pogroms auf Behandlung. Wohl auch deshalb hält Paulinka am Berufsethos ihres Mannes fest; die Niedergeschlagenheit und Sorge, die ihr im Gesicht stehen, kompensiert sie durch übertriebene Mütterlichkeit. Sie drängt ihren Mann: „Du gehst sofort ins Krankenhaus, mein Schnuppelhäschen. Ich hol dir rasch dein Mäntelchen, ich hol dir dein Hütchen.“ Die intime Sprache zärtlich-mütterlicher (Für-)Sorge grenzt hier ans Lächerliche. Der antisemitische Terror stürzt die Opfer in extreme Schutzlosigkeit. Ein übermächtiges Bedürfnis nach Regression entsteht, gerade weil keinerlei Verlaß mehr ist auf einen privaten Schutzraum. In Charlottes sarkastischer Inszenierung einer sich vor Hilflosigkeit überbietenden Mütterlichkeit verbirgt sich zugleich die Sehnsucht der einsamen, zerrütteten, jungen Emigrantin nach jener Wärme Paulinkas, die auf dem Bild dem Vater gilt.
Sich selbst präsentiert die Malerin in dieser Tischszene zum Novemberpogrom ganz eigenartig: Sie steht in der Mitte des Bildes hinter dem Tisch und zwar fast körperlos. Einzig ihr Kopf tritt aus dem glimmenden Rot-Orange des Hintergrunds in einem kränklichen Rosa deutlich hervor. Er ist nicht nur sehr blaß und völlig kahl, sondern trägt einzigartig im ge
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