: Das Erwachen der Bauern
■ Paolo Freire und die brasilianische Volksbewegung
Paulo Freires Arbeiten wurden in Brasilien einer breiten Masse Anfang der sechziger Jahre bekannt, in einer Zeit sozialer Reform, weitverbreiteter politischer Mobilisierung und vor allem großer kultureller Produktivität. Das erste Mal in der Geschichte Brasiliens nahm „das Volk“ städtische Arbeiter, Bauern und Teile des Kleinbürgertums teil an der Formung der politischen Zukunft ihres Landes.
Der Ausdruck dessen war vielfältig. Während entwicklungspolitische Maßnahmen in Kraft gesetzt wurden, die Brasilien zu einer unabhängigen Industrienation machen sollten, entstanden gleichzeitig neue Gewerkschaften und politische Organisationen, die eine Demokratisierung der autoritären sozialen und politischen Institutionen des Landes forderten. Die Volkskulturbewegung breitete sich über ganz Brasilien aus, es entstanden Bildungszentren noch in den kleinsten Dörfern und man förderte künstlerische Bemühungen, die kulturelle Kolonisierung Brasiliens zu überwinden.
Besonders in den ländlichen Gebieten im Nordosten stellte das politische Erwachen der Bauern eine Gefahr für die jahrhundertealte Form der Landpacht dar; Grundeigentum konzentrierte sich im Besitz weniger mächtiger Familien und verdammte die ländliche Bevölkerung zu extremer Armut. Die Gründung einer Bauern-Liga und Landarbeitergewerkschaft und der neue kritische Geist, der von der Volkskulturbewegung ausging, machte den Nordosten Brasiliens - und besonders Freires Heimatbezirk Pernambuco - zu einem Ort beispielloser politischer und kultureller Aktivitäten. Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene, politische Organisation und die Förderung von Volkskunst und Folklore griffen ineinander.
Paulo Freire, der als Sozialarbeiter das materielle Elend und die geistige Unterdrückung der Landbevölkerung kennengelernt hatte, wurde zu einer der wichtigsten Figuren der Volkskulturbewegung. In „Kultur-Zirkeln“ wurden Diskussionsgruppen organisiert; durch Diavorträge, die das schwere Los ihres Alltags thematisierten, wurden Landarbeiter zur Reflexion über die Gründe für ihr Elend angeregt, um sie zur Überwindung ihrer unkritischen Akzeptanz der Unterdrückung zu bewegen.
Auf der Grundlage dieser kollektiven Bewußtwerdung Conscientisa?ao - entwickelte Freire nach und nach eine revolutionäre Alphabetisierungsmethode für Erwachsene, in der Lesen und Schreiben verbunden wurden mit einer kritischen Analyse der sozialen und politischen Realität, in der sich die Sprache der Lernenden bewegen muß. Freires Methode arbeitete nicht mit vorgegebenen Texten, zu deren Inhalten die Bedürfnisse der Lernenden in keinem Bezug standen, sondern indem er Worte wie „Brot“, „Kampf“ und „Volk“ lesen und schreiben lehrte; auf diese Weise lernten sie gleichzeitig, wie Freire sagte, die Realität zu „entschleiern“, das heißt sie bekamen einen befreienden Blick auf das Wie und Warum des sozialen Gemachtseins ihrer Armut und Unterdrückung. Dieser neue Blick würde sie dann aus der „Kultur des Schweigens“ ausbrechen lassen, sie würden eine „Stimme“ bekommen und so zu Handelnden in der Entwicklung zu einer gerechten und menschlichen Gesellschaft werden.
Diese Methode erwies sich als äußerst erfolgreich, 1963 wurde die erste nationale Alphabetisierungskampagne organisiert. Da nur wählen durfte, wer des Lesens und Schreibens kundig war, war es für die damalige Regierung lebenswichtig, zur Absicherung ihrer sozialreformerischen Politik so viele Menschen wie möglich zu alphabetisieren. „Kultur-Zirkel“, die nach Freires Methode arbeiteten, sollten im ganzen Land ins Leben gerufen werden. Aber durch den so deutlichen Zuwachs von politischem Bewußtsein, der diesem Lernen implizit war, wurde Freires Denken und die Aktivitäten der Volkskulturbewegung von den Stützen der etablierten sozialen Ordnung, besonders den Grundbesitzern Brasiliens, sehr schnell als Gefahr erkannt.
Durch den rechten Militärputsch 1964 wurde der Prozeß der politischen Mobilisierung zum Halten gebracht, die Bauernligen und Landarbeitergewerkschaften aufgelöst und die Führer und Mitarbeiter der Volkskulturbewegung gejagt und gefoltert. Das Lehrmaterial wurde eingezogen und verbrannt. Freire floh nach Chile, wo die christlich-demokratische Regierung Eduardo Freis an der Macht war. Während seines Exils und mit der Erfahrung des Militärputsches im Hintergrund radikalisierte sich sein Denken. Seine in dem schmalen Bändchen Die Pädagogik der Unterdrückten enthaltenen Gedanken zum Verhältnis von Bildung, sozialer Revolution und Befreiung wurden zu einer Inspirationsquelle für viele revolutionäre und soziale Bewegungen in allen Teilen der Welt, von der europäischen Studentenbewegung der Sechziger und Siebziger bis zu nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und Mittelamerika. In Guinea Bissao und Nicaragua arbeitete man in nationalen Alphabetisierungskampagnen nach seiner Methode.
Durch den Sturz Allendes wurde Freire ein zweites Mal ins Exil gezwungen; er ging in die Schweiz und arbeitete bis zu seiner Rückkehr nach Brasilien vor allem im Weltkirchenrat.
Vivian Schelling
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