: Hessens Hochschulen vor dem Kollaps
Hessens HochschülerInnen streiken gegen Bildungsmisere / Qualitative Ausbildung fast nicht mehr möglich / StudentenInnenzahlen haben sich vervielfacht, aber die Zahl der ProfessorInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen ist in den letzten zehn Jahren gleichgeblieben / Jetzt auch Streik an der Frankfurter Universität ■ Von Michael Blum
Allmittaglich herrscht in der Mensa der Fachhochschule das gleiche Bild: Studierende stehen bis zu 50 Minuten für ihre Verköstigung an, um in den verbleibenden Augenblicken ihrer Mittagspause das Essen hinunterzuschlingen. Am gastronomischen Ruf der Massenküche kann es nicht liegen die Gerichte schmecken nicht besser als in vergleichbaren Großküchen. Das tägliche Schlangestehen in der Mensa gehört zum studentischen Alltag an den bundesweit überfüllten Universitäten und Fachhochschulen.
Die Fachhochschule Darmstadt ist ein architektonischer Zweckbau im Stil der sechziger Jahre: Grauer Wolkenkratzer, betonierter Campus und kaum Grünanlagen. Die 1965 für 2.300 Studierende gebaute Lehranstalt war bereits 1971 mit 2500 Student Innen ausgelastet. Heute studieren in Darmstadt 8.300 Menschen, ohne daß die FH erweitert wurde. Standen 1971 genau 250 ProfessorInnen und 150 MitarbeiterInnen zur Verfügung, sind es heute 260 Lehrende und 170 Mitarbeiter Innen. In Hörsäle, die für 40 StudentInnen konzipiert wurden, sind heute bis zu 100 Menschen zusammengepfercht. An den anderen hessischen Fachhochschulen ist die Lage nicht besser: Die FHs stehen nach einem bundesweiten Vergleich des hessischen Rechnungshofes in Sachen Personalausstattung an letzter Stelle. Seit Mitte Oktober kommt es an den Fachhochschulen Fulda, Wiesbaden-Rüsselsheim, Frankfurt, Gießen-Friedberg und Darmstadt zu Protesten gegen die Studienbedingungen. Aller Orten fanden Vorlesungsboykotte und alternative und öffentliche Vorlesungen statt. Neben lokalen Demonstrationen protestierten 8.000 StudentInnen vor dem Kultusministerium in der Landeshauptstadt Wiesbaden. Die Professoren unterstützen bislang die Aktionen. Die Rektorenkonferenz Hessischer Fachhochschulen erhebt teils gleichlautende Forderungen wie die StudentInnen. Auch die Gewerkschaften ÖTV, GEW und die IG Metall haben sich inzwischen mit den FachhochschülerInnen, von denen derzeit nur noch die Fuldaer KommilitonInnen im Ausstand sind, solidarisiert. In einem „Notprogramm für die FHs“ fordern die Studierenden die kurzfristige Schaffung von neuen ProfessorInnenstellen, sowie die Einstellung von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen MitarbeiterInnen. „Nur so ist ein sinnvoller Lehrbetrieb überhaupt möglich“, meint ein Sprecher des Darmstädter FH -AStAs. Auch die Rektorenkonferenz Hessischer Fachhochschulen hat sich auf ihrer Herbsttagung für die Einrichtung neuer Stellen an den FHs ausgesprochen. Dies sei die personelle Voraussetzung „zur Verhinderung des Numerus Clausus in den Studiengängen Elektrotechnik, Maschinenbau, Informatik und Wirtschaftsingenieurwesen“. Die Rektorenkonferenz hatte bereits vor Jahresfrist personelle Verbesserungen, die Anmietung neuer Räumlichkeiten für die FHs und die Aufstockung der Mittel gefordert und vor einem ohne diese Maßnahmen drohenden bildungspolitischen Kollaps gewarnt.
Die Erfolgsaussichten stehen jedoch schlecht: Der hessische Wissenschaftsminister und Stellvertretende Ministerpräsident Wolfgang Gerhardt (FDP) hat im Haushaltsjahr '89 lediglich 12 neue Stellen für alle hessischen FHs vorgesehen. In einem „Hessischen Sonderprogramm“ mit einem Etat von 15,6 Millionen Mark sollen ab 1989 bis zunächst 1995 weitere 25 ProfessorInnen- und sonstige Mitarbeiter-Stellen geschaffen werden.
„Das Programm ist doch lediglich eine politische Augenwischerei - nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein: Für die FH-Darmstadt bedeutet das zwei neue Professuren sowie fünf Stellen für wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche MitarbeiterInnen“, rechnet der Darmstädter AStA-Vertreter vor. Und auch die vom Wissenschaftsministerium versprochene Unterstützung bei der Anmietung zusätzlicher Räumlichkeiten sieht er als „Seifenblase“ an. Der Darmstädter Magistrat habe zum Beispiel gegenüber dem AStA bereits signalisiert, daß es rund um die FH keinerlei Gebäudekapazitäten gebe.
„Diese paar Stellen haben wir immerhin durch unsere Aktionen und Streiks erkämpft, unsere Forderungen gehen aber weiter“, berichtet er. Die FachhochschülerInnen wollen über die Verbesserung der Studienbedingungen hinaus die Einrichtung einer Frauenbeauftragten und die Abschaffung von Zulassungsbestimmungen erreichen. Die in Hessen nach Überschreitung der Förderungshöchstdauer zu entrichtenden zusätzlichen Studiengebühren in Höhe von 250 Mark sollen abgeschafft werden. Die Darlehensbasis für BAFÖG soll wieder abgeschafft werden. Zudem müßten die Fachhochschulen unabhängig von den Einflüssen der Industrie und Wirtschaft werden, heißt es in dem Forderungskatalog weiter.
„Hallo! Wir sind der Pillenknick!“ steht auf einem Transparent zu lesen. An dem Demonstrationszug durch die Frankfurter Innenstadt beteiligten sich am Dienstag rund 10.000 StudentInnen. Auch die Johann-Wolfgang-Goethe -Universität wird jetzt bestreikt. Am Mittwoch sind es 14 der 21 Fachbereiche, die sich an einem „aktiven Streik“ beteiligen. Nicht Vorlesungsboykott wird betrieben, sondern die Diskussion über die Studienbedingungen in den regulären Veranstaltungen. „In den Seminaren und Vorlesungen soll solange über die bildungspolitische Misere diskutiert und Alternativen erarbeitet werden, bis die Uni-Leitung und die verantwortlichen Ministerien für Abhilfe sorgen, und das kann dauern“, resümiert ein Sprecher des Streikrates. In einigen Kursen geht der Lehrbetrieb jedoch unverändert weiter, obwohl die Fachbereiche offiziell bestreikt werden.
Die Universität hatte in den letzten zehn Jahren einen Zuwachs an Studierenden von 38 Prozent zu verkraften. An der für 18.000 StudentInnen ausgelegten Universität sind im Wintersemester 1988/89 rund 34.000 Studierende immatrikuliert. „Die Ressourcen gingen im gleichen Zeitraum zurück, heute haben wir 531 gegenüber 563 Professorenstellen vor zehn Jahren“, berichtet Uni-Präsident Klaus Ring.
Vom Hessischen Sonderprogramm hält Ring wenig: Für Frankfurt werden lediglich ein paar Studentenwohnheim-Plätze übrig bleiben, meint er. Ohnehin sei die Misere nur mit einem langfristigen Programm zu lösen. Er teile die Ansicht der Westdeutschen Rektorenkonferenz: Zur Sicherung des Qualitätsniveaus an den Hochschulen muß ein „Programm für die nächsten acht Jahre“ entwickelt werden. Nach Meinung von Ring sind zunächst die besonders überlaufenen Fachbereiche gezielt zu fördern, neue Räumlichkeiten müssen angemietet und neue Stellen im Lehrbetrieb geschaffen werden. Auch die nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterstellen müßten zur Verbesserung der Infrastruktur an den Hochschulen aufgestockt werden, meint Ring, der in diesem Jahr auch schon mal die Polizei gegen unliebsame StudentInnen aufmarschieren ließ. Im Streik ist er nach eigenen Angaben aber „mit den Aktionen solidarisch, solange sie friedlich verlaufen“. Die Prüfungen soll er für die Dauer des Streiks nach Meinung der StudentInnen aussetzen und für die nächste studentische Vollversammlung die Messehalle anmieten. Letzteres sagte Ring bereits zu.
Um ihre Forderungen durchzusetzen, schließen die Studierenden eine Ausweitung des Streiks und die Besetzung von Teilen der Universität nicht aus. An die anderen bundesdeutschen Hochschulen richteten die FrankfurterInnen die Forderung, ähnliche Aktionen zu ergreifen.
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