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Arbeitslose sollen Eltern wieder zur Kasse bitten

Neue Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums soll Arbeitslosenhilfe wieder elternabhängig machen / Urteil des Bundessozialgerichts ausgehebelt / Jetzt Rückforderungen stellen / Anwälte raten ArbeitslosenhilfeempfängerInnen zu klagen  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Mit einer neuen Rechtsverordnung über die Gewährung von Arbeitslosenhilfe hat das Bundesarbeitsministerium jetzt auf ein Urteil des Bundessozialgerichts reagiert, das bei Arbeitslosen Jubel ausgelöst hatte und bei der Bundesanstalt für Arbeit lange Gesichter. Nach jahrelanger Prozeßdauer hatten die Bundesrichter Anfang September festgestellt, daß die Bemessung der Arbeitslosenhilfe unter bestimmten Voraussetzungen nicht vom Einkommen der Eltern oder anderer unterhaltspflichtiger Verwandter abhängig gemacht werden darf (AZ 11/RAr 25/88). Für etliche tausend Arbeitslose, die zuvor ihre Eltern oder Kinder zur Kasse bitten mußten und nur gekürzte Arbeitslosenhilfe erhielten, verhieß diese Entscheidung einen unverhofften Geldsegen. Der Bundesanstalt für Arbeit standen dagegen jährlich 400 Millionen Mehrkosten und Rückzahlungforderungen für entgangene Leistungen ins Haus.

Unrecht zu Recht geformt

Um dieses finanzielle Desaster abzuwenden, hat nun das Bundesarbeitsministerium nach dreimonatiger Beratungszeit einen Notanker zurechtgezimmert. Eine „zweite Verordnung zur Änderung der Arbeitslosenhilfeverordnung“ soll den Arbeitsämtern die Rechtsgrundlage geben, so weiter zu verfahren, wie vor dem legendären Urteil der Bundessozialrichter. Praktisch heißt das: ab 1.1.89 soll bei der Arbeitslosenhilfe wieder das Einkommen von Verwandten angerechnet werden, egal, ob die tatsächlich Unterhalt zahlen oder nicht.

Die Bundessozialrichter hatten im September insbesondere zugunsten all der Arbeitslosen entschieden, die zwar auf dem Arbeitsmarkt eine offene Stelle finden würden, aber nach den Zumutbarkeitskriterien diese Arbeit nicht anzunehmen brauchen, weil sie weit unter ihrer Qualifikation liegt. In solchen Fällen, so hatten die Bundesrichter gemeint, könnten die Eltern nicht zum Unterhalt herangezogen werden, folglich müßte auch die Arbeitslosenhilfe voll ausbezahlt werden. Die Arbeitsämter dürften dann auch nicht einen fiktiven Unterhalt zugrundelegen und die Zahlungen um diesen Betrag einfach kürzen.

Ein Beispiel: die Eltern des arbeitslosen Sozialpädagogen K. wären nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Unterhalt für ihren Sohn verpflichtet, aber nur, wenn der nicht in der Lage wäre, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Das jedoch könnte K. durchaus, wenn er z. B. als Gelegenheitsarbeiter bei der Straßenreinigung oder als Putzmann jobben würde. Dazu kann er aber vom Arbeitsamt nicht gezwungen werden, denn dieser Job liegt weit unterhalb seiner Qualifikation und ist nach den Bestimmungen des Arbeitsförderungsgesetzes für ihn nicht zumutbar. Ergo, so entschieden die Bundesrichter, können die Eltern nicht herangezogen werden und das Arbeitsamt muß „löhnen“. Die Bundesrichter gaben der Bundesregierung zwar auch etliche Tips, wie sie z. B. durch veränderte gesetzliche Zumutbarkeitsgrenzen oder durch eine Plünderung möglicher Sparstrümpfe sich an den Arbeitslosen schadlos halten könnte. Aus all diesen Tips hat jetzt das Arbeitsministerium jedoch nur eine sehr verwirrend allgemeine, knappe Verordnung gezimmert, die im Laufe dieses Frühjahrs in Gesetzesform gegossen werden soll. Nach dieser Verordnung gelten ArbeitslosenhilfeempfängerInnen dann nicht als „bedürftig“ und anspruchsberechtigt, wenn sie auf einen Unterhalt von ihren Eltern oder Verwandten verzichten „oder Handlungen unterlassen, die Voraussetzung für das Entstehen oder Fortbestehen“ von Unterhaltsansprüchen sind. Das heißt: EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe müssen, so sie Geld vom Arbeitsamt sehen wollen, notfalls ihre Familie auf Unterhalt verklagen. Und sie müssen die Bereitschaft zeigen, jedwede Arbeit zu übernehmen. Nur - wer jede beliebige Arbeit annimmt, egal wie schlecht bezahlt und unzumutbar sie ist, wird ohnehin nicht lange arbeitslos sein und braucht weder beim Arbeitsamt noch bei den Eltern anzuklopfen.

Mit ihrer Argumentation, die jetzt in Verordnungsform ihre Neuauflage erlebt, war die Bundesanstalt für Arbeit jedoch gerade vor dem Bundessozialgericht gescheitert. Eine als rechtswidrig erkannte Praxis auf dem Verordnungswege für Recht erklären, nennt deshalb auch der Mannheimer Rechtsanwalt Klaus Dieter Freund, der im September die brisante Grundsatzentscheidung erstritten hatte, diesen Zirkelschluß der neuen Order. Die Verordnung sei ein „völlig untauglicher Versuch“, das Problem zu lösen. Juristisch würden die Verwalter der Arbeitslosengelder vor dem Bundessozialgericht erneut Schiffbruch erleiden, meint Anwalt Freund. Auch beim Deutschen Landkreistag, einem Zusammenschluß der Landtage, sagt man: „Das Bundesarbeitsministerium weiß ganz genau, daß es rechtswidrig ist, mit einer Verordnung eine höchstrichterliche Rechtsprechung auszuhebeln. Diese Verordnung kann juristisch keinen Bestand haben“. Nur: bis es in vielleicht drei Jahren zu einer erneuten höchstinstanzlichen Entscheidung darüber kommt, können die Arbeitsämter unbeschadet die Gelder kürzen.

Anwälte raten dennoch den ArbeitslosenhilfeempfängerInnen, die aufgrund dieser neuen Verordnung einen negativen Bescheid bekommen, zu schriftlichen Widersprüchen und Klagen. Der Landkreistag wird darüber hinaus die Sozialämter der Kommunen auffordern, diejenigen, die wegen der neuen Verordnung das Sozialamt in Anspruch nehmen müssen, zu einer Klage zu ermuntern. Und sollte es tatsächlich im Sommer zu einer entsprechenden Gesetzesänderung kommen, darf man auf die parlamentarische Auseinandersetzung gespannt sein, denn inzwischen regt sich auch innerhalb der CDU Widerstand gegen die ständigen Mittelkürzungen für Arbeitslose.

Arbeitslose, auf die die Voraussetzungen des Urteils des Bundessozialgerichts zutreffen, haben zumindest für die Zeit von der Urteilsverkündung des Bundessozialgerichts (7. September) bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung (30.12.) einen Anspruch auf volle Arbeitslosenhilfe. Ihnen hatten die Arbeitsämter bisher nur vorläufige Bewilligungsbescheide geschickt, bei denen das Einkommen der Eltern noch einbezogen war. Aber diejenigen, die schon seit Jahren Arbeitslosenhilfe beziehen oder kürzlich bezogen haben, können im nachhinein Anträge auf Überprüfung ihrer bisherigen Zahlungen stellen und für die Vergangenheit kräftige Rückzahlungen einfordern. Diese Rückzahlungen, die in die Millionen gehen würden, sind zwar eine Ermessensentscheidung. Doch immerhin will man bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht ausschließen, daß bald eine Lawine von Forderungen auf sie zukommt, und auch im Bundesarbeitsministerium überlegt man fieberhaft, wie man sich gegenüber solchen Ansprüchen verhalten soll.

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