: Ein Radikaler des neuen Typs
■ Die Tagebücher des Hauptstadtstürmers der NSDAP und späteren Reichspropagandaministers Joseph Goebbels
Jürgen Langenbach
Die staunenswerte Enzifferungsarbeit, mit der die Herausgeberin E.Fröhlich Goebbels‘ Handschrift auf bald 3.000 Druckseiten übertragen hat, bietet nicht nur detailhungrigen Zeithistorikern Beschäftigung auf längere Zeit: Goebbels hat durchgehend von 1924 bis 1945 Tagebuch geführt und sich dabei, zumindest bis 1941, keine merkliche Selbstzensur auferlegt. Bislang waren nur Bruchstücke aus dem Papierberg bekannt, nun liegen die Jahre bis 1941 zu großen Teilen vor und bieten einen Einblick ins Innere der nationalsozialistischen Macht wie zuvor einzig die Memoiren A.Speers.
„Wilde Tage des Saufens aus Verzweiflung“ (Oktober 1923) leiten die Tagebücher ein. Goebbels ist Mitte Zwanzig, hat sein Studium beendet und weder Arbeit noch Geld noch sonst einen Halt. „Alles, was ich beginne geht schief... Nichts erwartet mich - keine Freude, kein Schmerz, keine Pflicht und keine Aufgabe.“ (17.7. 1924), seine Schriftstellerträume sind geplatzt („niemand bezahlt mir etwas für meinen Mist“, 13.8. 1924), Freunde hat er nicht, und die unzähligen Geliebten liebt er „mehr, wenn sie ferne sind, als wenn sie bei mir weilen“ (23.8. 1924). In Summe: „Ich bin eine große Null“ (28.7. 1924), „ich bin gestorben und längst begraben“ (28.9. 1926).
Goebbels‘ Person ist Mitte der zwanziger Jahre akut vom Zerfall bedroht, „der verdammte Eros“ (11.8. 1924) treibt ihn um, ein „entsetzliches Gefühl von Schuld“ (14.4. 1925) reißt ihn zurück. „Jedes Weib reizt mich aufs Blut... Und dabei bin ich schüchtern wie ein Kind“ (15.7. 1926).
Von der anderen Seite ruft die Pflicht, durch den Mund seines Vaters, eines spießbürgerlichen Haustyrannen, bei dem der Versager auch ökonomisch in „Schulden“ steckt. Dieser Vater ist ein Preuße, wie er im Buche und im Nachruf seines Sohnes steht. „Er war ein ganzer Mann. Ein Kerl. Ein Pflichtmensch. Ein Fanatiker der Arbeit. Ein Berserker der Hingabe an seine Augabe, so klein sie auch sein mochte“ (11.12. 1929). Der Sohn ist nicht einmal ein ganzer Mann, er hat einen Klumpfuß.
Goebbels findet eine Lösung, die, ganz unorthodox, alle Beteiligten befriedigt und obendrein auf der Höhe der Zeit steht. Er wendet die Not zur Tugend, befreit sich von der drückenden Last der Persönlichkeit. „Ferien vom Ich. Das tut not.“ (22.11. 1929)
Der erste Ferientag ist der 22.8. 1924, Goebbels gründet in Mönchengladbach eine Ortsgruppe der NSDAP und hält eine Rede. „Ein junger Mann saß direkt neben mir, und ich merkte, wie beim Reden seine Augen anfingen zu glühen. Seine innere Glut schlug wieder auf mich über“, und beide vereinen sich zur Extase der Masse. Wer das Gegenüber ist (auch: welchen Geschlechts), ist ebenso unerheblich wie der Inhalt der Rede, Goebbels teilt ihn nicht mit. Entscheidend ist, daß alle Beteiligten „außer sich“ geraten (22.3. 1932), es „herrscht ein unbeschreiblicher Taumel der Verzückung“ (ebd.). „Der Sportpalast tobt und rast eine ganze Stunde lang in einer Art von Besinnungslosigkeit“ (27.2. 1932) und das „Ende“ ist „ein einziger Aufschrei. Ich bin wie aus dem Wasser gezogen“ (18.6. 1929), „meine Rednerjacke ist jetzt noch naß wie ein Handtuch“ (10.8. 1928).
Wovon immer er naß geworden sein mag, auch der Einpeitscher kann und will sich der Orgiastik der Masse nicht entziehen. Selbstredend sind die Rednerposen einstudiert, selbstredend wird mit den perfektesten technischen Mitteln „an die primitiven Masseninstinkte appellier(t)“ (4.9. 1932). Aber Goebbels appelliert damit auch an sich selbst, er treibt den Nazis nicht einfach die Massen zu, er findet seine Lust in der Masse. Dort kann er sich, im Wortsinne verstanden, herausreden, aus sich herausreden. Und dort kann er all jene herausreden, die ihr Ich gleichfalls loswerden wollen: Die sinkenden Schichten, die außer ihrem Ich keine Werte mehr zu verlieren haben, und die Jungen, die in der abgewirtschafteten bürgerlichen Gesellschaft erst gar nichts zu gewinnen haben.
Aber alle Tage ist nicht Sportpalast, „der Eros meldet sich, sobald ich eine Pause im Rasen mache“ (15.7. 1926). Also darf das Rasen kein Ende nehmen und muß auch den Alltag beherrschen. „Arbeiten! Ich wüte wie ein Stier“ (18.3. 1925), „ich rackere mich zu Tode. Kann ich anders?“ (14.5. 1925). „Nur die Arbeit erlöst mich“ (14.5. 1925). Und zwar „von allem“ (1.4. 1929): Vom Eros, der als Arbeitswut toben darf; von der Autorität, deren Ansprüche („Berserker der Pflichterfüllung“) eingelöst werden; und vom Ich, das keinen Alkohol mehr benötigt, sondern im Rausch der Arbeit aufgeht.
Ganz ähnlich beschreibt A.Speer sein Verhältnis zum Nationalsozialismus als „Suchtproblem“ eines workaholic (Spandauer Tagebücher, 153). Aber Speer arbeitet immerhin noch nach herkömmlicher Art, als Architekt, als Organisator der Rüstungsproduktion. Goebbels hingegen hat in seiner „Arbeit“ nicht einmal einen Gegenstand, er bearbeitet als Propagandist die Köpfe. Und in ihnen sitzt, wie im eigenen auch, der ärgste Widersacher. „Nur nicht ans Denken kommen. Arbeiten, arbeiten!“ (31.8. 1924) Ganz gleich was, nur nicht einhalten. „Ich frage mich manchmal nach dem tieferen Sinn. Aber wir müssen weitergehen und uns niemals umschauen.“ (2.10. 1929)
Goebbels schaut nicht zurück, schon gar nicht in irgendein völkisches Brimborium, aber Goebbels schaut auch nicht nach vorn, zu irgendeinem Ziel. „Arbeit, Hetze, Kampf, Raserei“ (15.7. 1926), das ist alles. Goebbels ist immer in Bewegung und er bringt in Bewegung. Schließlich heißt seine Bewegung auch nicht x- oder y-Bewegung, sondern „Die Bewegung“.
„Ein ganzes Volk setzt sich in Bewegung“ (30.4. 1933) und wird ebendadurch erst ein Volk. „Arbeiter und Bürger, hoch und niedrig, Unternehmer und Untergebener, nur ein deutsches Volk marschiert ... und das ganze Reich (zittert) in seligem Erbeben.“ (1.5. 1933) Solange sie sich bewegen, ob sie nun in der Arbeit wüten, bei den Massenaufmärschen oder im Krieg, so lange genießen sie die Lust der Ferien vom Ich. Solange sind sie „der neue Mensch“ (27.6. 1924), nicht der „deutsche“ Mensch oder das „deutsche“ Volk, ihre Lust rührt gerade daher, daß sie alle Vergangenheit loswerden, die individuelle und die gesellschaftliche. Sie ähneln eher jenem Ch.Chaplin der Modern Times, der am Fließband zappelt und in der Freizeit damit nicht mehr aufhören kann.
Aber wo bleiben die Inhalte? Das haben sich die Intellektuellen der zwanziger Jahre auch gefragt und Hitlers Kampf und Goebbels‘ Propagandaschrifttum alsbald gelangweilt aus der Hand gelegt. Es steht nichts drinnen, und gerade darin liegt die Pointe der Nazis: Sie schaffen alle Inhalte aus dem Weg.
„Ich bin der radikalste. Vom neuen Typ. Der Mensch als Revolutionär“ (30.7. 1926). Goebbels schreibt viel von der Revolution und vom Sozialismus, seine Heimat im Ruhrgebiet soll gar „das Mekka des deutschen Sozialismus“ (11.2. 1926) werden. Aber in den Tagebüchern findet sich nur eine Begriffsbestimmung: „Im Rhythmus des Gleichschritts siegt die Idee. Gemeinsamkeit. Sozialismus!“ (7.12. 1925). Der Goebbelssche „Sozialismus“ ist der Rhythmus des Gleichschritts selbst. Und die Idee, in deren Namen da marschiert wird? „Stennes (ein SA-Führer, J.L.) meinte, ich sei der Stalin der Bewegung, der über die Reinheit der Idee wache. Ich bin es nicht, aber ich will es sein... Die Idee muß rein und kompromißlos sein... Sonst sind wir verloren.“ (5.11. 1929) Sonst kehrt der Schmutz wieder. „Dreck in mir und Dreck um mich... Wir gehen dem Zusammenbruch entgegen“ (2.1. 1926). Sofern nicht unentwegt gereinigt wird. „Ich bin sauber, innen und außen. Das Gefühl erfüllter Pflicht ist doch das schönste.“ (12.1. 1929)
Die Idee, über deren Reinheit der Saubermann wacht, ist keine andere Idee als die Idee der Reinheit. Und die Idee der Reinheit wiederum, das zweite Schlagwort der Nazis, ist nichts anderes als das erste Schlagwort noch einmal. „Die Bewegung“ muß sich unaufhörlich bewegen, um rein zu bleiben, reiner zu werden. (Deshalb wird, nebenbei, die Grenze zwischen innen und außen nicht, wie Theweleit verkürzt, durch einen starren Körperpanzer gehalten, sondern durch die Dauerbewegung desselben.)
Der „Revolutionär“ Goebbels macht sich denn auch selbst nichts vor. „90% des deutschen Proletariats ist auch nur ein Scheißhaufen. Warum kämpfen? Aus Mitleid? Nein, weil ich dem Dämon in mir gehorchen muß!“ (4.4. 1925)
Allerdings ist Goebbels von seinem Dämon, der Bewegungswut, getrieben wie kein zweiter. „Adolf Hitler, ich liebe Dich“, gesteht er am 19.4. 1926 seinem „Beichtvater“, dem Tagebuch. „Er spricht 3 Stunden. Glänzend. Könnte einen irre machen... Ich beuge mich dem Größeren“ (13.4. 1926). Aber die erste Verliebtheit ist schnell verflogen, „Hitler arbeitet zu wenig. So geht das nicht weiter. Und er hat nicht den Mut, Entscheidungen zu fällen. Er führt nicht mehr“ (29.1. 1930), er treibt nicht mehr voran, im Gegenteil. „Hitler cunctator!“ (12.6. 1930) schimpft der Enttäuschte ein ums andere Mal, „der Zauderer! Der ewige Hinhalter! Damit wird die Bewegung erledigt.“ (29.6. 1930)
Jahrelang und mit zunehmender Heftigkeit tobt die Auseinandersetzung zwischen süd- und norddeutschem Flügel der NSDAP, zwischen den „verkalkten Bonzen in München“ (21.8. 1925) und den Verfechtern der “'Zweiten Revolution'“, in deren Namen Goebbels sein erstes Buch publiziert (11.1. 1926). Immer öfter rebellieren die ungeduldigen Sturmtruppen gegen die zögerliche Führung. „Unsere S.A. ist und bleibt ... die Avantgarde der Revolution“ (7.2. 1932) und „die Münchner sind und bleiben Bürger“ (5.6. 1929). Keine Frage, auf welcher Seite Goebbels steht. „Wir schließen einen Bund. S.A. + ich. Das ist die Macht.“ (23.2. 1931)
Am 20.Juni 1934 schlagen die verkalkten Bonzen (im sogenannten Röhm-Putsch) die Revolutionäre tot und Goebbels steht auf der Seite der Sieger. Die entsprechenden Passagen der Tagebücher sind verlorengegangen, aber nichts läßt darauf schließen, daß der „Revolutionär“ beim Frontwechsel auch nur mit der Wimper gezuckt hätte, daß ihn der Schritt über die Leichen der Verbündeten mehr Skrupel gekostet hätte als der über die Leichen der Gegner.
Im Gegenteil. Goebbels fühlt sich hinterher so gut als Revolutionär wie zuvor, und das mit Grund. Er hat die Front gar nicht gewechselt, er ist sich treu geblieben. Denn seine „Revolution“ hat mit Inhalten nichts zu tun, sie ist gefräßig. „Und er suchte, wen er verschlinge“ (27.3. 1926), und wen er verschlungen hat, der sucht mit: „Unser Prinzip heißt: immer stärker werden“ (30.11. 1937). Die Bewegung, die kein Ziel hat, findet ihr Movens in der Steigerung ihrer selbst, immer größere Massen müssen sich in immer heißere Erregung steigern lassen, „Sportpalast wieder einmal überfüllt wie nie“ (22.11. 1930). Jedes Mal ist der Sportpalast überfüllt wie noch nie, ununterbrochen vollbringt der größte Führer aller Zeiten die größten Taten aller Zeiten.
Alles muß wachsen, auch und vor allem die Zahl der Gegner. Je mehr schon totgeschlagen sind, desto mehr müssen noch totgeschlagen werden. „Wir stehen wohl bald vor der Macht. Aber dann? Bange Frage“ (2.12. 1930). Goebbels begreift früh, daß die errungene Macht das Ende der Bewegung wäre, was nach der Machtübernahme in Deutschland der Marsch morgen nicht in die Revolution, sondern über die ganze Welt folgen muß. Drei Wochen ist der Krieg gegen Frankreich zu Ende. „Aber diese Ruhe hält man nicht lange aus. Was werden wir erst mit dem Frieden anfangen?“ (12.7. 1940) Keine Sorge, die Frage ist rein hypothetisch. „Die deutsche Öffentlichkeit in Siedehitze. Alle hatten gefürchtet, England“ - oder sonstwer - „würde die Friedenshand des Führers ergreifen. Der Krieg gegen England“ - oder sonst jemanden - „wird wie eine Erlösung wirken... Gut denn! Das Drama muß zuende gespielt werden.“ (27.4. 1940)
Es ist das Drama nicht allein des Nationalsozialismus, es ist das Drama des eingangs zitierten, ganz unscheinbaren Wunschzettels. Die Nazis haben ihn vollstreckt, sie haben ihn nicht erfunden, sie haben ihn geerbt. Unterzeichnet ist er, das weist sein Bildungsbürgerton, von der bürgerlichen Gesellschaft selbst und im Namen ihres Fortschritts.
Joseph Goebbels, Die handschriftlichen Tagebücher Juli 1924 -Juli 1941, hrsg. von Elke Fröhlich, vier Bände und ein Interimsregister, circa 3.000 Seiten, 348 Mark, Saur Verlag
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