: ÜBER DEN WOLKEN
■ Bireli Lagrene Electric Band im Quasimodo
Wer mit zwölf Jahren zum gefeierten Gitarrenvirtuosen avanciert und zum rechtschaffenen Erben Django Reinhardts erklärt wird, jeden Abend ein Konzert vor Leuten gibt, die sich für seine rasante Fingerfertigkeit begeistern, muß eine eigenartige Jugend verleben.
Bireli Lagrene galt als Kind als Verfechter des Zigeunerjazz‘, einer Musikrichtung, die durch die Verfolgung und Vernichtung ihrer Protagonisten speziell in Nazi -Deutschland dem fast vollständigen Verschwinden preisgegeben war. Eine Musik, bei deren Erwähnung die meisten heute höchstens noch die Geige und ein klischeehaft im Hintergrund knisterndes Lagerfeuer assoziieren. Bireli Lagrene erhielt von allen Seiten die überschwenglichsten Kritiken, besonders von Jugendlichen, die ebenfalls krampfhaft versuchten, Gitarre zu lernen, jeden Tag stundenlang Griffe übten und ihr sauer zusammengespartes Taschengeld wöchentlich zum Gitarrenlehrer schleppten, um ihren Unterricht zu bezahlen. Keiner von ihnen wurde so schnell und perfekt wie Lagrene, und jedes Jahr beim Konzert der Kinderstars wurde es ihnen erneut bewiesen. Geld pfutsch, Fingernägel zerschunden und immer noch nicht berühmt.
Bireli spielte derweil weiter seinen Jazz und ließ sich feiern, die Klatscherei und Bewunderung gingen ihm zwar manchmal auf die Nerven, besonders die der Kritiker, die ihn um seiner Geschwindigkeit willen wie eine Sekretärin mit soundsovielen Anschlägen pro Minute bejubelten. Aber er ließ sich das alles nicht anmerken. Nur hatte er irgendwann einfach keine Lust mehr, Zigeunerjazz zu machen, vielleicht wollte er auch endlich einmal einen ordentlichen Verriß kassieren, und begann plötzlich mit einer Musik, die eigentlich schon lange keiner mehr hören mag: Jazzrock.
Im Quasimodo präsentiert er sich mit seiner Electric Band, er hat die akustische mit der halbakustischen Gitarre vertauscht und spielt immer noch seelenruhig die schnellsten Akkordfolgen, die menschliche Augen und Ohren erfassen können. Wärme, sonnige Klänge wechseln mit blechernen Läufen, seine Finger scheinen alles wie im Traum zu verrichten. Lagrene muß nicht hinschauen, die Augen geschlossen, manchmal eine hundertstel Umdrehung zur Saitenstimmung, spielt er sich durch die Lüfte. Seine Kollegen ergänzen ihn, die Rhythmusabteilung liefert exakte, trockene Handkantenschläge ins Genick, der Baß trumpft auf, hat nicht dieses Wummern, sondern eine abgeklärte Kühlheit, manchmal fast die Zartheit eines Jaco Pastorius wie in den guten Tagen von Weather Report. Lang ist es her, und Pastorius ist tot, verprügelt und verreckt nach einem Konzert, bei dem er nur Zuschauer war.
Diese Musik trägt zurück in die Siebziger, als man sich mit Chick Coreas „Return To Forever“ und ein wenig gutem Gras berauschte. Man zog von Fete zu Fete und mußte einfach diese höllisch schnellen Sounds hören, Al di Meola war gerade noch rasant genug, ein bißchen schneller als unsere Rennräder. Nur bei Konzerten konnte diese Musik nichts ausdrücken, die Gitarreros traten zu zweit zu öffentlichen Wettrennen an, wer kann es am flinksten, ohne sich die Finger zu brechen.
Das Ganze hatte sich spätestens mit Erfindung des Gitarrensynthezisers erledigt, schon einige Jahre zuvor bekam man Platten von Corea oder Stanley Clarke in jedem Second-Hand-Laden nachgeworfen. Als der letzte Held der Gitarrenfans, Pat Metheny, dann auch noch mit Oralpopper David Bowie kollaborierte, war für die dogmatischen Jazzfans der Zug abgefahren. Nie wieder Jazzrock, aber eigentlich bedeutete diese Kategorie sowieso längst nichts mehr.
Und nun also Bireli Lagrene, der dem toten Unternehmen neues Leben einhauchen will. Er ist vollkommen unbelastet von dieser ganzen Geschichte, er spielt einfach sein Zeug, und es ist o.k. Er bedankt sich zwar artig für den Applaus, aber im Grunde scheint er ihn nicht zu interessieren. Er weiß, daß er gut ist, aber bildet sich nichts drauf ein, er ist cool, aber nicht unsympathisch dabei, er steht über dem ganzen Gefasel dort unten am Boden. Ob er ein akustisches Solo spielt oder mit geballter Macht loslegt, er macht sein Ding und er macht es gut.
Nerven kann höchstens der Keyboarder Kuno Schmidt, der mit seinem dreistufigen Pianisynthie Bläser oder Steeldrums herbeimogelt, die nicht so recht zum Rest passen wollen. Nerven können ebenfalls die Besucher der ITB, die laut eigenem Bekunden Berlin unheimlich toll finden, das Quasimodo toll finden, sich selber toll finden und die ganze Zeit über diese schier unerschöpflichen Themen lamentieren, so daß auch der letzte Depp, der wegen Musik gekommen ist, ihr Geschwätz mitbekommt und die Gitarre nur im Hintergrund hört.
Das alles ist Bireli Lagrene vollkommen schnuppe, auf die Art wird er sich nie einen vernünftigen Verriß einhandeln.
Andreas Becker
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen