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Überarbeitung in der weißen Fabrik

■ Haushohes Transparent am ZKH ST.-Jürgen-Straße : „Akkord ist Mord“ / 240 Stunden Dienst für 1.600 DM netto / Initiative fordert Neueinstellungen und 500 DM mehr für alle / „Ohne Streik is‘ nix zu holen“

Im Aufenthaltsraum vor der Station 8 spielen drei Patienten Skat. Der eine liegt im Bett, der zweite sitzt im Rollstuhl, der dritte hat Krücken vor sich stehen. Ich lehne in der offenen Tür und mache Notizen. „Schreib‘ mal, wie es hier zugeht. Mein Freund Peter mit seinem kaputten Bein, der muß sich von einem anderen Patienten den Rollstuhl leihen, um zum Rauchen zu kommen.“ Der Mann im Bett wendet sich mühsam um: „In anderen Krankenhäusern werden die Matratzen desinfiziert, wenn n‘ neuer Patient kommt. Hier 'nich. Bei mir im Zimmer, da is‘ einer mit 'ner Gehirnerschütterung. Als der kam, ham‘ die Schwestern das Bettlaken abgerissen und die Matratze einfach rumgedreht.“ Der Mann im Rollstuhl liefert die nächste Geschichte: „Bei uns ist ein Bett frei geworden. Die volle Pinkelflasche hing noch drei Tage später.“ Wenn ich nicht gegangen wäre, säße ich wohl mit einem ganzen Notizblock voller Geschichten in der Redaktion. Aber der Eindruck wäre wohl der gleiche: Im Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße wird nur noch die latente Krise organisiert.

Die KrankenpflegerInnen sehen es nicht anders. Gestern mittag entrollten sie ein Transparent, sechs Stockwerke lang, auf dem in roten Lettern steht: „Pflege im Akkord ist Mord.“ Nun steht das Klinikum nicht in Wien, und ein Pfleger weist auch die durchsichtige Frage der „Bild-Reporterin“ zurück, ob es schon einmal „zum Schlimmsten“ gekommen sei.

Aber es ist klar: Die Situation ist zum Schaden der PatientInnen.

Ausgetragen wird die Mangelwirtschaft auf dem Rücken des Pflegepersonals. Das machte die

zweite Aktion am gestrigen Tag deutlich: KollegInnen gingen mit Fragebogen über die Stationen und befragten das Personal nach den Arbeitsbedingungen. Keine

Station fühlte sich überbesetzt, alle klagten über Zeit-und Personalmangel. Eine Nachtschwester: „Wir gehen immer häufiger dazu über, zu sedieren und zu fixieren. Was soll man tun, wenn man allein mit 33 Patienten ist?“ Das klingt so harmlos, es bedeutet: PatientInnen müssen festgebunden oder mit Beruhigungsmitteln über die Nacht gebracht werden.

Auch im Tagdienst sieht es nicht besser aus. Zwei Kollegen von der Station 8 formulieren es drastisch: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“ Konkret heißt das: sie werden am Samstag über 30 Patienten zu zweit betreuen.

Das Problem wird dadurch verschärft, daß immer weniger Menschen in der Pflege arbeiten wollen. Jochen Killing, Stationsleiter auf der Anästhesie-Intensiv-Station, erläutert den Grund: „Wer zehn Jahre als Pfleger gearbeitet hat, kommt mit allen Zuschlägen auf etwa 1700 bis 1.800 DM.“

Der Betrieb kann nur aufrecht erhalten werden, weil das Personal mit seiner Verantwortlichkeit erpreßt wird. So sind Dienstverpflichtungen am freien Wochenende mittlerweile die Regel, schließt das magere Gehalt Feier

tags-und Sonntagsarbeit ein. 60 Überstunden im Monat sind keine Seltenheit und schon jetzt ist absehbar, daß viele KollegInnen bis auf weiteres nicht in Urlaub fahren können.

In dieser angespannten Situation gewinnen die Tarifverhandlungen besondere Bedeutung, umso mehr, da die Friedenspflicht abgelaufen ist. Viele der KollegInnen, die gestern die Aktion trugen, verlassen sich nicht mehr allein auf die ÖTV. Sie haben eine Aktionsgruppe „Wir wehren uns“ organisiert, die mittlerweile in über 30 Städten der BRD arbeitet. Ihre einheitlichen Rahmen-Forderungen: 500 DM netto mehr für alle, die Auszubildenden eingeschlossen. Angemessene Zuschläge. Ermittlung des Personalbedarfs durch das Personal. Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung in Planstellen. Keine Anrechnung von SchülerInnen auf den Stellenplan.

Bislang trägt die Gewerkschaft die Forderungen mit. Aber während sie auf Verhandlungen setzt, bereitet die Aktionsgruppe Demonstrationen vor. Und es ist ein offenes Geheimnis, wenn ein Mitglied des Vertrauensleutekörpers sagt: „Wir diskutieren auf allen Stationen über Streik.“ FW

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