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Wer hat Angst vor Tschernobyl?

■ Drei Jahre „danach“: Sorgen um Gesundheit und neue AKW-Unfälle sind nationaler Konsens

Berlin (taz) - Allen Unbedenklichkeitsorgien zum Trotz: Jeder fünfte Berliner (19 Prozent) ist davon überzeugt, durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl „gesundheitliche Einbußen“ erlitten zu haben. Von diesen Betroffenen glauben wiederum sieben Prozent, durch den Fallout Strahlenschäden davongetragen zu haben, zwölf Prozent befürchten mittel- bis langfri- stige körperliche Beeinträchti gungen.

Dies ist das Ergebnis einer Untersuchung des Instituts für Psychologie der TU Berlin, der bisher letzten veröffentlichten Studie zu den Folgen von Tschernobyl. Die Berliner Sozialwissenschaftler bewerten Tschernobyl als „einmaliges, herausragendes Ereignis innerhalb einer Kette von Katastrophen“.

Nur elf Prozent der in einer Stichprobe befragten Einwohner der Mauerstadt behaupteten, daß die „Havarie“ keinen Eindruck bei ihnen hinterlassen habe. 50 Prozent waren stark oder sehr stark persönlich betroffen, Frauen und jüngere Menschen fühlten sich deutlich intensiver bedroht.

Emotionale Reaktionen auf Tschernobyl registrierten 54 Prozent. Dabei überwogen resignative Gefühle, Hilflosigkeit und Angst. Nur 12 Prozent der Befragten hätten aggressive Gefühle, Wut, Zorn und Haß entwickelt.

Als Bewältigungsstrategie stellten 26 Prozent der Befragten Verdrängung und gedankliche Vermeidung in den Mittelpunkt. 17 Prozent bewerteten Tschernobyl als „Denkanstoß“, 11 Prozent versuchten mit „Wurstigkeit und Fatalismus“ über die Runden zu kommen.

In ihrer Bewertung ziehen die Berliner Wissenschaftler unter anderem folgendes Fazit: „Nach unseren Ergebnissen ist die Angst vor weiterer Umweltzerstörung und vor Unfällen in Atomkraftwerken so verbreitet, daß sie statistisch als „normal bezeichnet werden kann“.

Noch unveröffentlicht ist eine andere Studie der Bremer Wissenschaftler Schmidt, Ziggel und Scheer, die pünktlich zum dritten Jahrestag fertiggestellt wurde. Die Bremer Wissenschaftler haben die Kindersterblichkeit innerhalb der ersten sieben Tage nach der Geburt bundesweit untersucht und dabei in Bayern und Baden-Württemberg, also den radioaktiv höher belasteten Zonen, „deutliche Veränderungen“ festgestellt. Nachdem vorab bekanntgewordene Teilergebnisse der Studie von der Münchner Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung heftig kritisiert worden waren, wollen die Bremer Wissenschaftler ihre Arbeit jetzt international publizieren und für die Anerkennung kämpfen. Es sei auffallend, daß die Arbeit schon als unseriös zurückgewiesen wurde, bevor die Kritiker auch nur eine Seite gelesen hätten, monieren die Autoren. Die taz hat erstmals die komplette Stu die vorliegen und stellt sie vor.

Während heute in vielen Städten in der Bundesrepublik Aktionen zum Jahrestag des Super-GAUs stattfinden („Super -GAU - noch nicht schlau“), zeigt sich ein neuer Optimismus in der Anti-AKW-Bewegung. Die Flucht der Atomindustrie aus Wackersdorf und die Beerdigung auf Raten des Hochtemperaturreaktors in Hamm sowie des Schnellen Brüters von Kalkar sorgen für Frühlingsgefühle.

-man Tagesthema Tschernobyl Seite 3

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