: Polonaise ins Parlament
■ In Polen breitet sich das Wahlkampffieber aus / Aus Warschau Klaus Bachmann
Der runde Tisch hatte es so bestimmt: am 6. Juni wird die polnische Bevölkerung zum ersten Mal Parlament und Senat nahezu frei wählen können. In Kinos, Kirchen und auf Kaffeekränzchen üben sich die KandidatInnen in der Kunst der Selbstdarstellung. Erster Erfolg der Vorwahlzeit - „die“ Opposition gibt es nicht mehr: Polen ist ins Zeitalter des Plurals eingetreten.
Direktor Tuderek ist ein smart lächelnder Managertyp Anfang fünfzig. Über der Jacke seines Nadelstreifenanzugs leuchtet eine Krawatte, die so fest sitzt, als hätte man sie angeschweißt. Direktor Tuderek, Chef von Polens größtem Baukonzern Budimex, ist braungebrannt, schlank, konziliant, dynamisch. Geschmeidig steigt er in den improvisierten Ring zu dem „Herrn Redakteur“, der ihm, wie in einem amerikanischen Quiz, mit Fragen zusetzen soll, denn es ist Wahlkampf - und Direktor Tuderek wirbt für die Arbeiterpartei.
Wen denn Sejmkandidat Tuderek im Sejm vertreten wolle? Seine Firma, die Baulobby, die Marktwirtschaftler? Ob er für Export in der Bauwirtschaft sei, wo es doch in Polen selbst zu wenige Wohnungen gebe? Tuderek antwortet selbstsicher, überlegen, was ihm um so leichter fällt, als die Fragen nach dem Muster gestrickt sind: „Sind Sie nicht auch mit mir der Ansicht, daß...?“
Doch da fragt eine einst von Tuderek aus dem Betrieb geworfene Angestellte nach dem Schicksal jener etwa 150 Beschäftigten, die in Tudereks Amtszeit an die Luft gesetzt wurden. Alles ältere Arbeitnehmer, die teilweise schon seit 20 Jahren dort gearbeitet hatten. Für einen Moment ist Tuderek konsterniert. Doch dann fängt er sich sofort, und die Antwort, die dann wie aus der Pistole geschossen kommt, muß ihm irgendwo bei Milton Friedman oder Charles Darwin begegnet sein. „Die Schwachen fliegen raus“, erklärt er gnadenlos, „das ist mein Prinzip.“
Aber Direktor Tuderek ist nämlich nicht Mitglied der liberalen Partei, der Lubliner Marktwirtschaftler oder eines „Margaret-Thatcher-Freundschaftskreises“. Nein, Direktor Tuderek ist führendes Mitglied der Warschauer Organisation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Und Genosse Tuderek (der Ausdruck fällt bei der Veranstaltung kein einziges Mal) wurde von seiner Partei als Sejmkandidat aufgestellt. In deren Wahlprogramm steht zwar einiges davon, daß die Partei „Vertreter der Interessen des arbeitenden Volkes“ sein werde, aber Tuderek kann damit wenig anfangen. Auf die Frage eines empörten Zuhörers, warum er denn mit diesen Ansichten in der PVAP sei, bleibt der Genosse Generaldirektor erstmals die Antwort schuldig.
Tuderek ist einer der Kandidaten der kommunistischen Partei, der offenbar nach dem Kriterium ausgewählt wurde, möglichst nicht als solcher erkennbar zu sein. In seiner Wahlwerbung kommt die Parteizugehörigkeit jedenfalls nicht vor.
Das gleiche Bild bei den offiziellen Gewerkschaften OPZZ, die diese Woche ihre Kandidatenliste für das ganze Land bekanntgegeben haben - ohne Angabe darüber, ob die jeweiligen Kandidaten als Parteileute, Unabhängige, Parteilose oder Vertreter einer der Bündnisparteien der PVAP kandidieren.
Jacek Kuron im Kino
Um sich davon zu überzeugen, daß es wohl Mangel an Selbstbewußtsein ist, der die PVAP zur Mimikry verleitet, muß man nur drei Kilometer weiter nach Norden fahren. Dort, im Warschauer Stadtteil Zoliborz, hat Jacek Kuron, der für Lech Walesas Bürgerkomitee kandidiert, ein ganzes Kino angemietet. Hatte Genosse Tuderek das Problem, das kleine Wahlkampfbüro der Regierungskoalition mit 30 Leuten zu füllen, so hat Kuron das umgekehrte Problem: bei ihm sind alle 700 Sitzplätze belegt, und trotzdem stehen die Leute noch auf den Gängen und vor dem Kinoeingang.
Kuron ist in Polen als Mitbegründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), Solidarnosc-Berater und enger Freund von Arbeiterführer Lech Walesa bekannt. Wenige Wochen zuvor aus den USA heimgekehrt, betreibt er einen Wahlkampf auf amerikanische Art. In der Eingangshalle steht eine Truppe Schüler und Studenten in weißen T-Shirts mit rotem Aufdruck: „Jacek Kuron - unser Abgeordneter.“ Es sind die Jugendlichen, die für den dicken Mitfünfziger, der drinnen mit hochrotem Kopf mit dem Mikrofon gestikuliert, die Unterschriften gesammelt haben. Jetzt verkaufen sie riesige Plakate, auf denen sich Walesa und Kuron die Hände schütteln. Daß auch Walesa denkt, Kuron werde ein guter Abgeordneter sein, kann man den Handzetteln entnehmen, mit denen Kurons Truppe den ganzen Stadtteil eingedeckt hat. Auch Kuron, das spürt man, ist der Ansicht, ein guter Abgeordneter zu sein. Er spricht selbstsicher, der allgemeinen Aufmerksamkeit gewiß, und auch wenn er jeden Abend den gleichen Text vorträgt, unterstreicht er noch selbst die unwesentlichste Äußerung mit dramatischen Gesten. „Meine Hoffnung“, sagt er gerade, als wolle er auf die Veranstaltung seines Konkurrenten Tuderek in der Innenstadt Bezug nehmen, „sind jene Leute da oben, die nicht für den Stalinismus verantwortlich sind und die nicht die geringste Lust haben, für ein System den Kopf hinzuhalten, das sowieso vor die Hunde geht.“
Im Gegensatz zu Direktor Tudereks Kaffeekränzchen scheint im Kino eine ausgesprochen linke Veranstaltung im Gange zu sein - jedenfalls für polnische Verhältnisse. Eine Dame fragt Kuron, welche Garantie es denn gebe, daß die Wahl nicht zu einer Klerikerherrschaft durch kirchenhörige Abgeordnete führe. Die Kirche, meint Atheist Kuron, habe selbst kein allzu großes Interesse daran, in die Tagespolitik hineingezogen zu werden. Dann spricht er über soziale Schranken für die kommende Marktwirtschaft, die Abschaffung der Nomenklatura und die Abhängigkeit von der Sowjetunion.
Ein Anhänger seines Gegenkandidaten, der Christdemokrat Sila-Nowicki, will wissen, ob sich Kuron nicht schäme, gegen einen Mann anzutreten, der schon zur Stalinzeit verfolgt worden sei, als Kuron selbst noch in der Partei war. Kuron geht der Frage geschickt aus dem Weg. Noch einige Jahre zuvor hat der bekannte Strafverteidiger Sila-Nowicki Kuron vor Gericht verteidigt. Noch in den 70er Jahren arbeiteten Sila-Nowicki und Kuron bei der Verteidigung der schikanierten Arbeiter von Ursus und Radom im Rahmen des KOR zusammen. Daß sich ihre Wege jetzt so getrennt haben, führt Sila-Nowicki darauf zurück, daß das Bürgerkomitee eben zur „linken Monopolpartei der Opposition“ verkommen sei, wie er sagt. Für Rechte oder für Zentristen wie ihn sei da kein Platz.
Usurpator Solidarnosc
Schauplatz Nummer drei - eine neugebaute Kirche am Stadtrand von Warschau. Hier treffen wir auf Sila-Nowicki höchstselbst. Bei allem Respekt für Kurons Dienste, auf seinen Wahlveranstaltungen erspart der Anwalt dem Komitee nichts. Es stelle den Versuch dar, Demokratie mit undemokratischen Mitteln zu schaffen. Der Gruppe um Walesa, die das Bürgerkomitee geschaffen hat, wirft er vor, das Schild „Solidarnosc“ usurpiert zu haben. Sie handle ohne Mandat, habe sich selbst ernannt und ihre Gegner ausgegrenzt. Sila-Nowicki spielt auf Walesas innergewerkschaftliche Gegner an, die in Lodz und Szczecin eigene Kandidaten aufgestellt haben und angesichts des Propaganda-Aufwandes der Bürgerkomitees Probleme haben zu vermitteln, daß sie auch „Solidarnosc“ sind. Die mehreren hundert Leute unterbrechen den Anwalt immer wieder mit Zwischenrufen und Beifall. „Es gibt keine Solidarnosc ohne Demokratie“, wandelt Sila-Nowicki einen Walesa-Spruch ab. „Wir können uns keine Theatersäle leisten“, erklärt indessen sein Wahlkampfleiter in Anspielung auf Kurons Veranstaltung, „deshalb treten wir in Kirchen auf.“
Als Christdemokrat ist der bekannte Anwalt in Kirchen willkommen, mit Kuron propagandistisch mithalten kann er trotzdem nicht. „Wir sind ungefähr gleich reich“, witzelt Sila-Nowicki, „ich habe soviele Zlotys wie er Dollar.“ Tatsächlich ist die ganze Umgegend vollgepflastert mit bunten Kuron-Plakaten und Wahlsprüchen, die gelegentlich auch unter Sila-Nowickis Gürtellinie zielen. Die paar Aufkleber und Handzettel, die sich die Christdemokraten, für die Sila-Nowicki kandidiert, leisten können, hängen nur sehr vereinzelt an Häuserwänden. Sila-Nowicki hat denn doch ein unkompliziertes Verhältnis zu seinen Kontrahenten, auch wenn klar ist, daß aufgrund der Wahlordnung nur einer von beiden das Rennen machen und Abgeordneter werden kann. Manche von Sila-Nowickis Anhängern geht denn auch der Gaul durch. Er könne es „diesem Kuron“ nicht vergessen, ruft ein alter Mann erbost, „daß er in der Partei war, während wir im Gefängnis saßen“. Wie Sila-Nowicki, der in der Stalinzeit vier Todesurteilen entging, erging es vielen Mitgliedern der bürgerlichen Parteien der Zwischenkriegszeit in der Stalinära. Unter den Kandidaten des Bürgerkomitees sind dagegen viele, die ihre politische Karriere damals begannen und erst später zur Opposition stießen.
Die Partei nutzt in ihren Zeitungen und im Fernsehen diesen „Generationskonflikt“ in der Opposition weidlich aus. So zeigte das Fernsehen, das bekanntlich unter der Leitung von Sejmkandidat Jerzy Urban, dem Ex-Regierungssprecher, steht, Bilder, in denen der Solidarnosc-Kandidat Andrzej Lapicki in den 50er Jahren Lobeshymnen auf den Sowjetstaat losläßt. Lapicki ist markanterweise auch der direkte Gegenkandidat von Urban in Warschau.
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