: Henzes „El Cimarron“
■ Politisches Rezital des Komponisten Hans Werner Henze im Schauspielhaus
Will man Auskunft über die musikalische Entwicklung im Nachkriegseuropa erhalten, so wird man immer wieder auf den Namen Hans Werner Henze stoßen. Noch stark unter dem Eindruck seiner Jugenderlebnisse im faschistischen Deutschland leidend, entflieht Henze 1953 der bundesrepublikanischen Restauration durch eine Übersiedlung nach Italien. Ab 1967/68 unterstützt Henze aktiv die studentische Protestbewegung, wird Mitglied der Akademie der Künste der DDR und reist mehrmals nach Kuba.
Sein sozialistisch-marxistisches Engagement führt seit diesem Zeitpunkt zu einer massiven Politisierung der eigenen Kompsitionen. „Musik kann unter den bestehenden Verhältnissen nur noch als Akt von Verzweiflung gesehen werden, als Verneinung“ und: „Notwendig ist, die Träume in Angriff zu nehmen. Notwendig ist die große Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Notwendig ist die Veränderung des Menschen, und das heißt: Notwendig ist die Schaffung des größten Kunstwerks der Menschheit: die Weltrevolution“, so Henze im Oktober 1968.
Zu den nach wie vor gelungensten Würfen dieser Jahre, als auch im Hinblick auf das bis dato außerordentlich umfangreiche OEvre Henzes, zählt das 1970 in Kuba entstandene Rezital „El Cimarron“. Auf Anregung von Hans -Magnus Enzensberger, der die übersetzung und Einrichtung
des Textes übernahm, wählte Henze als Sujet die 1966 erschienene Autobiographie des damals 104jährigen Esteban Montejo.
Der Erzähler (Bariton) „rezitiert“ gestenreich, unterstützt von einem Flötisten, Schlagzeuger und Gitarristen, die wichtigste Lebensstationen des „Cimarron“ (spanisch für Wilder, flüchtiger Sklave): die Pein der Sklaverei, die FLucht in die Wälder, die Abschaffung der Sklaverei („Die flasche Freiheit“), bis zur Vertreibung der spanischen Kolonialisten. Durchbrochen von subjektiven Reflexionen zur Welt, der Religion, den Frauen, dem maschinellen Fortschritt und der Freundlichkeit. Die Partitur gibt den Musikern häufig nur graphische Anhaltspunkte, nach der je Tonhöhen, Lautstärken und Rhythmen von ihnen einfühlsam selbst dazu erfunden werden müssen.
Indes bleiben diese musikalischen Strukturen immer aufs engste mit den Bildern des Librettos verzahnt. Daneben zieht Henze präformiertes Material zur Gestaltung heran: kultische Rhythmen kubanischer Religionen, die schmalzige Melodie einer Habanera zur Charakterisierung der reichen Weißen oder die ironische Verzerrung der Pfarrer durch quasi kirchentonale Wendungen sind nur wenige Beispiele. Die Einstudierung des Stücks bis zu letztendlichen Stimmigkeit gilt als schwierig. Das Instrumentarium wird gewissermaßen übergreifend ausgenutzt.
Alle Spieler setzen ihre
Stimme (Singen, Schreien, Rufen) ein, sind am Schlagzeug beteiligt, gebrauchen Megaphon, Donnerblech oder Trillerpfeife. Hier formiert sich ein entscheidender Aspekt des „El Cimarron“. Neben der kompositorischen Umsetzung des Themas sucht Henze den Rahmen für eine Interaktion der Ausführenden zu erstellen: ohne Dirigent, sozial, miteinander phantasievoll und sensibel die Komposition erschließen.
H. Schmidt
Henzes „El Cimarron“ heute, 20h, im Schauspielhaus mit Einführung und Diskussion.
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