„Vorübergehend so etwas wie Ekel vor den Deutschen...“

Der russische Schriftsteller und Deputierte im neugewählten sowjetischen Volkskongreß, Kontratjew, über das deutsch-russische Verhältnis  ■ D A S M O N T A G S I N T E R V I E W

taz:Wjatscheslaw Leonidowitsch Kontratjew, Sie haben als einer der ersten russischen Schriftsteller in Ihrem Bühnenstück „Sachka“ in den 60er Jahren die deutschen Soldaten im II.Weltkrieg als genauso menschlich wie die russischen dargestellt. Das war damals eine Sensation. Welche Erfahrungen haben Sie in ihrem Leben mit den Deutschen gemacht?

Wjatscheslaw Leonidowitsch Kontratjew:Schließlich hat die Beziehung zwischen dem deutschen und dem russischen Volk eine jahrhundertelange Tradition, die immer frei von grundsätzlicher Feindschaft war. Die deutschen Kolonien auf der Krim, an der Wolga und in den baltischen Ländern wurden eher mit Wohlwollen betrachtet.

Zu Beginn des Krieges empfand ich die Deutschen als Leute wie „du und ich“. Ich war in einem Mietshaus großgeworden, in dem zwei deutschstämmige Familien wohnten, und der Sohn der einen Familie, Mischa Kraft, war mein allerbester Freund. Ich selbst habe als Kind deutsch gelernt und beherrschte die Sprache zeitweise besser als dieser Freund, vergaß sie dann aber doch wegen Mangel an Praxis.

Im Krieg hatte ich dann überraschenderweise Gelegenheit, meine Kenntnisse aufzufrischen. Ich geriet bei Welikie Luki in ein Hospital, in dem auch zwei deutsche Kriegsgefangene lagen. Der eine davon, ein Journalist, war mir so ähnlich, daß die Pfleger uns ständig verwechselten und mich „Fritz“ nannten. Das war 1943. Die beiden fragten mich, warum wir denn im Laufe des Krieges so an Stärke gewonnen hatten, und ich mußte ihnen erklären, daß wir Russen eben ein bißchen länger brauchen, um in Schwung zu kommen.

Verspürten Sie nicht einen inneren Widerstand gegen Menschen, die Ihnen soviel Leid angetan haben?

Die Vorstellung, daß die Soldaten, mit denen wir es im Feld zu tun hatten, „Unmenschen“ seien, war mir damals ganz fremd. Mir war von Beginn des Krieges an bewußt, daß sich am deutschen Volk eine Tragödie vollzieht, und daß viele Menschen aufgrund unglücklicher sozialer Umstände zu Opfern der faschistischen Propaganda geworden waren. Erst später, als ich die geräumten Konzentrationslager sah und erfuhr, wie unsere Kriegsgefangenen behandelt worden waren, habe ich vorübergehend so etwas wie Ekel vor den Deutschen verspürt.

Es gab viele Fälle von Kontakten zwischen deutschen und russischen Soldaten, die nicht in dieses Bild paßten. So erzählte mir ein ehemaliger Marineleutnant, daß er es insgesamt sechsmal geschafft hatte, aus deutscher Gefangenschaft zu fliehen, und daß es alle sechs Male Deutsche waren, die ihm dabei geholfen hatten. Einmal hat ihn ein deutscher Soldat über Nacht in seinen Unterstand aufgenommen, hat ihn mit Erbsensuppe mit Schinken versorgt und schließlich gefragt: „Warum kämpft ihr bloß so miserabel? Müßt ihr immer direkt ins Feuer rennen, statt es seitlich zu umgehen?“ Dieser deutsche Soldat war Arbeiter und bewußter Antifaschist. Bei einer anderen Gefangennahme riet ihm der deutsche Offizier, bei den nächsten Instanzen seine Zugehörigkeit zur Flotte nicht zu verraten, weil dies für ihn nachteilige Folgen haben könnte. Solche „Anfälle von Menschlichkeit“, wie wir sie damals nannten, gab es viele.

Sie haben einmal davon gesprochen, daß die russischen Soldaten sich in diesem Krieg im Unterschied zu den Deutschen nicht als Rädchen und Schräubchen im Getriebe empfanden.

Im Krieg wuchs das patriotische Selbstbewußtsein unserer Leute. Es bestand kein Zweifel daran, daß unser Kampf gerechtfertigt war. Und dies war kein sowjetischer Patriotismus, der sich da zeigte - so etwas wie einen Sowjetpatriotismus hat es alles in allem nur 20 Jahre lang gegeben -, das war vielmehr der tausendjährige russische Patriotismus, und Stalin wußte, daß er sich hierauf verlassen konnte. Wir wußten, daß das Schicksal des Vaterlandes in unseren Händen lag, und dies führte zu einem Aufschwung, mit dem Hitler übrigens nicht gerechnet hatte.

Wollen wir einmal bei dieser Situation zu Kriegsende bleiben. Hat sie das Deutschenbild der Russen verändert, die sich ja nun als Sieger zu Besiegten verhielten?

Man muß erst einmal festhalten, daß das Ende eines Krieges für die Heimkehrer in jeglicher Sozialordnung Probleme mit sich bringt. Denken Sie nur an Remarque, der für mich immer noch einer meiner Lieblingsschriftsteller bleibt. Die Bauern, die damals aus dem Krieg heimkehrten, stellten mit Enttäuschung fest, daß sie nicht auf ihre Erde heimkehrten, die Angehörigen der Intelligenz stellten mit Enttäuschung fest, daß die politischen Repressalien nicht aufgehört hatten. Wir, die wir doch erwachsene Leute waren, mußten noch einmal die Schulbank drücken und von Hungerstipendien leben - mit einem Wort: Der Alltag verschlang uns. Und vor diesem Hintergrund war da die Erinnerung an den Einmarsch in Deutschland. Ich nahm daran nicht teil, weil ich vorher verwundet wurde. Aber die Zeugen berichteten nachher von dem damaligen Lebensstandard der deutschen Bauern, der deutschen Arbeiter - das hatte einen gewaltigen Eindruck gemacht. Und natürlich hatten die Leute, die der deutschen Gefangenschaft entkommen konnten, sich dort gründlich umgehört, hatten dort sogar Informationen über die Geschichte ihres eigenen Volkes gesammelt, die hier unbekannt waren. Deshalb hat man sie ja auch später verfolgt.

Haben Sie die Auseinandersetzung um die Raketenabrüstung zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Bush verfolgt?

Ich glaube, daß es im Moment ziemlich albern ist, sich vor internationalen Aggressionen der Sowjetunion zu fürchten. Ich denke, daß wir mit unseren inneren Schwierigkeiten genug zu tun haben, und es ist jetzt jedem klar, daß wir nicht Milliarden für den Rüstungswettlauf hinausschmeißen können. Sehen Sie sich nur den Kongreß der Volksdeputierten an! Bei aller Unzufriedenheit, die dieser Kongreß hervorgebracht hat - ich bin nur stolz, daß dort ein so vollständiges Bild der Situation unseres Landes entworfen wurde. Heißt das, daß jetzt die Frage des wirtschaftlichen Vorteils wichtiger ist als alles andere?

Natürlich ist die Wirtschaft das Allerwichtigste. Ich halte nichts von Ideologie. Die Ideologie hat uns alle hineingerissen. Seit den 30er Jahren war klar, daß unsere Ideologie einfach unrentabel ist.

Und wie interpretieren Sie eine solche Haltung?

Natürlich denken die nicht mehr an diese ganze Geschichte unserer Nationen, sondern nehmen Sie einfach als Vertreterin einer Stadt wahr, in der es sich toll lebt. Ich selbst war in Berlin bisher leider nur auf der Durchreise nach Paris. Und trotzdem ist mir aufgefallen, daß die Behörden der DDR offenbar nicht einmal ihren Bahnhof in Ordnung halten können, während die westdeutschen Dörfer aussehen wie aus dem Spielzeugbaukasten geschüttelt.

Haben die Leute hier denn zur DDR eine ganz andere Beziehung als zu uns?

Ich denke, daß die Leute hier die deutsche Teilung als Schande empfinden, aber es ist ebenso klar, daß man dies nicht von heute auf morgen ändern kann. Zudem scheint es, daß die DDR-Regierung unsere Perestroika zwar irgendwie auf ökonomischem, nicht aber auf politischem Gebiet nachvollziehen kann. Ich denke, daß hier langfristig eine Art Übergangsstadium mit kleinem Grenzverkehr abhelfen könnte.

Bei uns äußern manche Leute den Verdacht, daß DDR -Flüchtlinge bisweilen weniger aus politischen Gründen als wegen der wirtschaftlichen Vorteile in die Bundesrepublik kommen, ebenso wie die Rußlanddeutschen.

Ich weiß, daß diese Leute sehr unter den Verfolgungen, denen sie in diesem Land ausgesetzt waren, gelitten haben. Ich denke auch, daß eine autonome deutsche Republik in der Sowjetunion ein mächtiger Wirtschaftsfaktor wäre. Ich glaube nicht, daß Menschen, deren Familien hier seit Jahrhunderten ein Heim gefunden haben, von hier fortgingen, wenn man ihnen eine entsprechende Zukunftsperspektive eröffnen würde.

Das Interview führte Barbara Kerneck