: In Wang Dans „Salon“
In den „Salons“ des verhafteten Wang Dan holte sich die Studentenbewegung wichtige Anstöße, auch von Lu Shuxian, der Frau des Astrophysikers Fang Lizhi / Tagebuchaufzeichnungen von Giske Losa ■ D O K U M E N T A T I O N
9. April 1989. Heute soll also etwas stattfinden in der Beida. Demokratie, ja richtig, das waren die ersten beiden Zeichen. „Shalong“ könnte „Salon“ sein, chinesische Umschrift. Diskussionssalon also, zum Thema Demokratie? Die angekündigte Veranstaltung scheint nicht legal zu sein, sonst wäre die Uni-Polizei nicht so schnell eingeschritten...
Wo soll sie nur stattfinden?
Plötzlich entsteht Bewegung auf dem Platz. Ein Student kommt zusammen mit einer energischen älteren Frau auf uns zu. „Wollt ihr auch mitmachen?“ fragte er Ben und mich. Wir sagen nicht nein. Alle laufen zur Mitte des Platzes und versammeln sich um den Studenten und die ältere Frau. Der Student ist sehr jung, etwa zwanzig. Er trägt ein kariertes Hemd, am Hals weit offen, billige Jeans mit Schlag, die von einem Gürtel zusammengehalten werden, Turnschuhe. Über dem Hemd eine blaue Regenjacke. Alle Kleidungsstücke wirken zu weit, weil er so dünn ist, und zu kurz, wie bei einem Kind, das aus seinen Kleidern herausgewachsen ist. Selbst an chinesischen Maßstäben gemessen ist nichts an ihm modebewußt. Die Haare sehen aus wie selbst geschnitten und mit Wasser niedergekämpft. Die Augen hinter der großen Brille spiegeln Angst und Entschlossenheit, wenn er spricht, legt er den Kopf ein wenig in den Nacken, und seine Stimme erinnert an die eines Kindes.
„Ich heiße Wang“, Geschichtsabteilung Beida, Semestraße 88. Lehrerin Li, von der Physikabteilung, ist heute zu uns gekommen, um sich unsere kühnen Wünsche und Forderungen anzuhören. Lassen wir also erst einmal Lehrerin Li sprechen.“ Etwa 200 Studenten sind da.
Lehrerin Li sagt, sie möchte gar nicht viel sagen, sondern lieber hören, was die Studenten zu sagen haben. Fragen und Probleme seien willkommen. Viele Fragen, die nach und nach in das Schweigen nach Lehrerin Lis Worten gestellt werden, klingen so: „Was geschieht, wenn ich meine Meinung sage?“
„Lehrerin Li, du und dein Mann, ihr sagt doch auch immer die Wahrheit, was passiert denn?“
„Lehrerin Li, ist es nicht gefährlich für dich, hierherzukommen?“
Plötzlich erreicht das Wasser des Sprengers die eng zusammengescharten Studenten. Man rückt ein wenig weiter weg.
„Ja, natürlich muß man Angst haben. Die Geheimpolizei ist schon oft bei mir und meinem Mann aufgetaucht. Ich würde auch keinem von euch raten, mich zu besuchen.“
„Je mehr Leute sich kritisch äußern, desto ungefährlicher wird es, sie können nicht alle Intellektuellen Chinas einsperren.“
„Wenn wir nicht reden, wer denn?“
Wieder erreicht das Wasser die Leute. Ein Gärtner rückt den Rasenbewässerer immer wieder an die Leute heran. Etwas weiter weg, ein Pavillon mit einem Grasplatz. Diszipliniert ziehen die zweihundert Studenten dorthin.
Lehrerin Li fordert die Studenten auf: „Ich erwarte eure Kritik, eure Idee. Sagt, was ihr denkt!“
Schweigen.
Schließlich jemand, der seinen Mut zusammennimmt: „Lehrerin Li, unsere Essensmarken sind nicht genug. Der Reis ist schlecht.“
„Lehrerin Li, warum gibt es morgens um sieben immer noch die Nachrichten für alle über Lautsprecher? Ich möchte selbst entscheiden, wann ich aufstehe.“
Ich verstehe, was viele Ausländer aus dem Westen nicht verstehen: eine Meinung zu äußern, will gelernt sein. Kindergarten der Demokratie.
Später im Gewühl sagt mir jemand, wer Lehrerin Li ist: Lu Shuxian, die Frau des Astrophysikers Fang Lizhi, Chinas wohl bekanntestem Dissidenten.
Gerade als ich gehen will, sehe ich den Studenten Wang mit fünf oder sechs Freunden auf einer Treppe sitzen. Sie diskutieren über einen Kranz, den sie für Hu Yaobang am Heldendenkmal niederlegen wollen. Als ich näherkomme, entfernen sie sich.
Am nächsten Tag nach dem Unterricht gehe ich wieder zu den Wandzeitungen. Schon aus der Ferne sehe ich eine große Menschenmenge, höre Trauermusik. Auf einem Schreibtisch steht ein Kassettenrekorder, aus dem verzerrt und in voller Lautstärke Trauermusik ertönt. Neben dem Kassettenrekorder eine leere Schublade, in die die Menschen Geld hineinlegen. Ein Schild: Wir sammeln für einen Kranz. Vier Studenten, darunter wieder Wang, stehen wie bei einer Totenwache. Sie tragen schwarze Armbinden. Wang schaut ständig flink um sich. Ich schaffe es, seinen Blick zu kreuzen, er erkennt mich und grinst. Plötzlich der Ruf: „Zum Tiananmen!“
Wang ist an einer Plakatwand hochgeklettert und versucht, sich mit seiner dünnen Stimme Gehör zu verschaffen: „Wir müssen erst einmal nachdenken!“ Umsonst. Aus einem Fenster in der Nähe fällt ein Banner mit der Aufschrift: „Seele Chinas.“ Manche verbrennen Zeitungsbündel als Fackeln.
In der Nacht, während der Demonstration, hat sich das Verhalten der Studenten uns Ausländern gegenüber grundlegend verändert. Die Leute aus meiner Wirtschaftsklasse, die sonst immer zitterten wenn ich mit ihnen redete, begrüßen mich freudig. Das Risiko mit einer Ausländerin zu leben, wird klein im Vergleich zu dem Risiko an einer Demonstration teilzunehmen. (Der Text wurde gekürzt.)
entnommen: Rowohlt Taschenbuch „Gebt uns Demokratie oder gebt uns den Tod„
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