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DIE QUADROPHONIE DES KREISES

■ Stadtmusik im Innenhof des Rathauses Wilmersdorf

Echtzeit Bericht, Beginn 22.38. Wir befinden uns im inneren Rund des Rathauses Wilmersdorf, ein kreisrunder Hof, Durchmesser etwa 75 Meter. Titel der Veranstaltung: „Eine quadrophonische Nachtmusik. Elektroakustische und Live-Musik von der Abenddämmerung bis zur Morgendämmerung.“

Das wenige Publikum verteilt sich weiträumig, man sitzt auf Gartenstühlen oder auf der Kante des Brunnens im Zentrum.

Töne umkreisen uns, kreisen uns ein. Auf einer Bühne zwischen zwei Säulen das „Kleine Kreuzberger Geräuschorchester“, gebeugt über Holzgerippe, schruppen zwei Personen auf diesen herum. Krachen, Ächzen, Blubbern aus allen Richtungen. Überall scheinen Boxen zu stehen, Geräuschquellen sind nicht exakt lokalisierbar, dem Gehör wird der Ausgang versperrt, ein Flugzeug donnert wie bestellt über uns hinweg.

Schluß, abruptes Ende, hier geht es nicht um Zugaben. Nach jedem Live -Auftritt folgt sofort ein Stück vom Band. Die Übergänge sind fließend, die Klänge verwandt. Läßt man den Blick schweifen im weiten Rund, weiß man schon bald nicht mehr, was hier überhaupt gespielt wird, die Geräusche sind noch vorhanden, doch die Bühne ist leer. Wüßte man es nicht besser, man könnte beim Blick in den Himmel über kosmische Klänge sinnieren. Aber, keine Zeiteinheit ist zu verlieren, die nächste Gruppe (Ulrich Eller und Paul Hubrich) steht Gewehr bei Fuß, eingekeilt zwischen zwei monolithischen Steinblöcken: „Den Opfern des Nationalsozialismus“. Augen nach links, ein paar Säulen weiter, kurz den Stuhl drehen, Ohren in alle Richtungen spitzen, von überall her kann der nächste Angriff folgen. Die beiden Musiker traktieren das Innere eines mit Saiten bespannten Holzkastens mit verschieden großen Steinen. Der quadrophonierte Hof wird zur überdimensionalen Steinschleuder. Es gibt keine Deckung. Man kann höchstens im Kreis laufen. Das faszinierende an diesem Ort, daß es kein zentriertes Konzertgeschehen an einem fixierten Platz, mit einer Frontal-Sitzordnung wie in der Schule gibt. Hier herrscht das wohltemperierte Chaos der Blick- und Hörwinkel.

Plötzlich Klassik im dritten Rang, ein Riesenorchester vom Band, hunderte von Streichern hocken im Gebälk, unsichtbar monumental. Man gibt Beethofens Sinf. No 49 sagt der Programmzettel.

Die Dämmerung ist völlig verebbt, nur noch einige Wolken am Himmel. Das Konzertexperiment soll, wenn es denn gelingt, die Übergänge vom Wachen in den Schlaf markieren, die Ebene zwischen Realität und Traum. Um diese Zeit aber überhaupt wahrzunehmen, muß man wach bleiben, zumindest halbwach. Die gespielte Nachtmusik wirkt nur leider, ihrer eigentlichen Aufgabe voll entsprechend, einschläfernd. Einfacher ausgedrückt, was bei dieser wohlorganisierten Veranstaltung fehlt, ist schlicht eine brodelnde Kaffeemaschine. Denn hell werden darf es erst nach der letzten Gruppe, und die ist für vier Uhr angekündigt, jetzt ist es 23.43.

Hubschrauber scheinen im Landeanflug begriffen, es dröhnt, wummert, Bässe im Boden, in der Luft, die Frequenz steigt, wo fliegen wir hin? Suchscheinwerfer unterm Dach leuchten den Himmel aus.

Frillneck, „Rain in the desert“. E-Gitarre quietscht über Becken, angeschlagenes Blech imitiert Gewitter, die Quadrophonie des Kreises läßt jeden Ton unendlich oft reflektieren und kreisen bis er an einer Säule zerschellt. Der Hof mutiert zur Klanggrube, die Grubenarbeiter schuften sich ab, um uns die Nacht um die Ohren zu schlagen.

Kurz nach zwölf, der Fahrplan wird peinlich genau eingehalten, klettert die New Yorker Sänger- und Performerin Shelley Hirsch in das innerste Rund, ein Löwenbewachter Springbrunnen von Rasen umsäumt. Sie steht im Gras, der Suchscheinwerfer findet sie, hüllt sie in kaltes Licht. Sie singt solo, nur mit Tonbandbegleitung, aber ihre Stimme füllt das Rund mühelos. Sie schimpft, schreit, flüstert, singt in der Badewanne. Sprache als Singsang, ein Streit als Melodie. Hirsch fuchtelt mit den goldbehandschuhten Händen, streift einen Handschuh ab, spielt damit, wirft ihn über die Brunnenstatue, neben einen Halbschläfer ins Gras, der nichts zu bemerken scheint. Jetzt müßte man ihn wachrütteln, fragen ob er etwas gehört hat, oder geträumt von einer Sängerin mit goldenen Fingern...

Jetzt ist es soweit, wir brauchen einen Kaffee, man verläßt nur ungern die runde Stätte, draußen sind Geräusche profaner Lärm. Zurückgekehrt, es geht auf zwei Uhr, ein kühler Wind weht durch den Hof, packt Friedemann Graef seine Koffer aus. Klappert mit den Klappen seines Saxophons, bläst, kaum merklich, die Töne bleiben stecken, kommen nicht ans Licht, kriechen durch die Luft, um niemanden zu wecken. Der Blick geht nach oben, wo sich der Himmel wie eine bemalte Leinwand über die Kreisöffnung spannt, wir sitzen auf dem Boden eines riesigen Fernrohrs. Die Sterne blitzen, verschwimmen im Bewußtsein, man hört alles nur noch wie von Ferne. Der Schlaf nähert sich auf leisen Sohlen.

Irgendetwas muß noch passiert sein, aber es verschwindet wie ein Traumfetzen auf Nimmerwiedersehn aus dem Gedächtnis.

Andreas Becker

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