: Sie arbeiten Tag und Nacht
Polnische Frauen sind die Hauptleittragenden der Wirtschaftsmisere ■ Aus Warschau Klaus Bachmann
„Um neun oder zehn Uhr abends gehen sie durch die Tore der Fabriken, um sieben Uhr morgens kommen sie heraus. Sie sind zu Tode erschöpft, aber sie bemitleiden sich nicht. Sie beeilen sich, um einen günstigen Platz in den Warteschlangen der Geschäfte zu bekommen, denn sie müssen noch einkaufen. Zu Hause warten die Kinder, die noch in die Schule gebracht werden müssen. Kochen müssen sie auch und aufräumen, erst gegen zwölf Uhr können sie aufatmen - die Frauen der Nachtschicht.“ So beginnt der Bericht der polnischen Gewerkschaftszeitung 'Zwiazkowiec‘ ('Der Gewerkschafter‘) über die Nachtarbeit von Frauen in Polen. Jahrzehntelang hatte sich Polens offizielle Propaganda selbst belogen, hatte die Tatsache, daß Frauen zu einem hohem Prozentsatz berufstätig seien, als Beweis für deren Emanzipierung hingestellt. Nun hat der 'Zwiazkowiec‘ erstmals aufgezeigt, was sich hinter diesen Floskeln versteckt.
Das erste Verbot, Frauen in Nachtschichten zu beschäftigen, entstammt aus dem Jahre 1906. In Polen ist die Berner Konvention seit 1926 gültig und wurde seit 1924 durch ein entsprechendes Gesetz der Zweiten Republik erweitert. Ausgesetzt wurde dieses Verbot erst 1951, in der Hochzeit des Stalinismus, weil es „die nationale Wirtschaftsentwicklung erforderte“. Heute ist in Polen lediglich das Nachtarbeitsverbot für Schwangere und Minderjährige in Kraft. Mütter mit Kindern unter einem Jahr müssen ihrer Einteilung in Nachtschichten zustimmen. Bis heute hat Polen auch nicht die Konvention Nummer 89 der Internationalen Arbeitsorganisation über Frauenarbeit ratifiziert. Daß es sich bei dieser Unterlassung um keine Kleinigkeit handelt, zeigt ein Blick auf die Statistik. Denn bei den Frauen, die des nachts arbeiten, handelt es sich nicht um geistig tätige, überlastete Chefsekretärinnen oder Nachtwächterinnen. Die überwiegende Mehrzahl arbeitet in der Industrieproduktion, zumeist in der Textilbranche, 16 Prozent sogar in der Hüttenindustrie. Lediglich zwei Prozent haben eine Vorgesetztenfunktion und ein Zehntel ist sogar älter als 50 Jahre. „Ich hatte keine andere Wahl“, antworten zwei Drittel der Frauen auf die Frage, warum sie nachts arbeiten. Nur 14 Prozent der in der Nachtschicht beschäftigten Frauen haben überhaupt eine mittlere Schulbildung genossen. In vielen Fällen hängt der Erhalt der Familie davon ab, daß die Frau ein Einkommen hat. Von der Berufstätigkeit als Selbstverwirklichung kann keine Rede sein: Es ist schlichter ökonomischer Zwang, der die Frauen zur Arbeit zwingt. Angesichts der Tatsache, daß der polnische Alltag für Frauen unvergleichlich härter ist als in westlichen Ländern, würden viele der Frauen die Nachtarbeit lieber heute als morgen an den Nagel hängen, wenn sie nur könnten: „Diese fünf- bis sechstausend Zloty mehr im Monat für die Nachtarbeit reichen gerade aus, um die Rationierungskarte für Fleisch im jeweiligen Monat aufzukaufen“, schreibt die Gewerkschaftszeitung 'Zwiazkowiec‘. Sonstige Erleichterungen gibt es nicht. Gerade sieben Prozent der Arbeitgeber fahren die Frauen mit eigenen Bussen zur Nachtschicht, die Arbeitsplätze unterscheiden sich nicht von denen der Tagarbeiter. Kommen die Frauen nach getaner Arbeit nach Hause, warten Ehemänner, Kinder und Haushalt auf sie. Zwei Drittel der Ehemänner sind den Frauen im Haushalt behilflich, fast 20 Prozent jedoch kümmern sich nicht darum. Nur ein Drittel der Frauen findet sechs oder mehr Stunden Schlaf; die Mehrheit arbeitet sozusagen Tag und Nacht.
Angesichts der Tatsache, daß viele Betriebe aus wirtschaftlichen Gründen nicht an eine Abschaffung der Frauennachtarbeit denken, schlagen die Gewerkschaften zumindest eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Frauen vor. Mehr Pausen, nicht mehr als drei aufeinanderfolgende Nächte durcharbeiten, mehr frische Luft am Arbeitsplatz, entsprechendes Essen und Trinken während der Arbeitszeit, Verkürzung der Wochenarbeitszeit und Berücksichtigung der Nachtarbeit bei der Rentenberechnung, lauten die Forderungen. Von einer völligen Abschaffung der Nachtarbeit für Frauen wagen polnische Gewerkschafterinnen angesichts der Wirtschaftslage gar nicht zu träumen.
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