: Oberster Sowjet: Bereichert euch, Genossen!
Privatbesitz von Produktionsmitteln zugelassen / Pachtland darf vererbt werden / Doch noch immer können die Kooperativen gegängelt werden / Sacharow gegen Führungsrolle der KPdSU / Die UdSSR stehe seiner Meinung nach vor dem Mehrparteiensystem ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
In der Sowjetunion ist erstmals Privatbesitz an Produktionsmitteln und Boden möglich. Der Oberste Sowjet hat am Dienstag mit großer Mehrheit einen Gesetzentwurf gebilligt, der erstmals seit der Machtübernahme der Kommunisten den privaten Besitz von Produktionsmitteln zuläßt und Bauern die Möglichkeit eröffnet, zur privaten Bewirtschaftung gepachtetes Land zu vererben. Mit 309 gegen 29 Stimmen bei 34 Enthaltungen wurde der Gesetzentwurf an einen von Gorbatschow geführten Ausschuß überwiesen, der eine endgültige Fassung erarbeiten soll. Diese bedarf dann wieder der Zustimmung des Parlaments.
Das Gesetz sieht den Besitz von Produktionsmitteln ausdrücklich zur individuellen und anderweitigen wirtschaftlichen Betätigung vor, was der marxistisch -leninistischen Doktrin zuwiderläuft. Es erlaubt auch den Aktienbesitz.
Einige Abgeordnete hatten sogar die völlige Freigabe der Produktionsmittel als Möglichkeit des Leistungsanreizes für Arbeitnehmer gefordert. Außerdem sollte nach ihren Vorstellungen die Arbeitskraft als Ware anerkannt werden, was den privaten Besitzern von Produktionsmitteln die Möglichkeit gegeben hätte, abhängige „Arbeitnehmer“ zu beschäftigen. Dies ging der Mehrheit aber zu weit.
Andrei Sacharow hat am Mittwoch im Obersten Sowjet die Streichung des Führungsanspruchs der KPdSU aus der Verfassung gefordert. Die UdSSR stehe auf der Schwelle zu einem Mehrparteiensystem, der Anspruch der KP sei anachronistisch und widerspreche den eingeleiteten Reformen.
Als dem zuständigen Beamten des Moskauer Stadtsowjets im Herbst 1987 die Frage gestellt wurde, wieviel Zeit man wohl brauche, um eine Ausstellung der Kooperativen zu organisieren, schätzte er sechs Wochen. Die Kooperativschiks organisierten ihre Leistungsschau dann innerhalb einer Woche. Nach dem Telefon-Schneeball-Systemwuchs die Zahl der Aussteller innerhalb eines Monats von einem Dutzend auf das Fünffache an. Sie heißen „Perspektive“, „Aurora“ oder „Weidenbäumchen“ und ohne ihre Tätigkeit ist der Sowjetalltag kaum vorstellbar.
Etwa 14 Millionen sowjetischer Bürger arbeiten in Kooperativen und beziehen wesentlich bessere Einkommen als ihre Kollegen im staatlichen Sektor. Sie produzieren Spielzeug, Kleidung oder Computerprogramme. Ihre gesetzliche Grundlage erhielten die Kooperativen im Mai letzten Jahres. Andrej Sacharow sprach in der Plenardebatte des Obersten Sowjets am Montag in diesem Zusammenhang vom „ersten Gesetz der Perestroika“ und warnte davor, die Kooperativen darüber hinaus gesetzlich zu gängeln.
Genau dies ist aber nun im Rahmen der Änderungen und Ergänzungen des Gesetzes über Kooperativen in der UdSSR geschehen, die vom sowjetischen Parlament am Dienstag verabschiedet wurden. Danach sind die lokalen Sowjets bevollmächtigt, den Kooperativen Preislimits für ihre Produkte und Dienste zusetzen und eine Inspektionsinstanz für diese Betriebe zu schaffen. Ziel ist dabei die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen für staatliche Betriebe und Kooperativen. Daß sich die meisten Kooperativen noch im Aufbau befinden und zusätzliches Kapital für Räume und Produktionsinstrumente benötigen wurde bei dem Gesetzentwurf kaum berücksichtigt.
Ob die öffentliche Meinung letztlich zum wichtigsten Bremsmechanismus für die ökonomischen Reformen in der Sowjetunion wird, diese Frage rief am Dienstag heftige Diskussionen im Obersten Sowjet hervor. Als zweites Projekt stand nämlich das „Gesetz über das Eigentum“ zur Debatte. Tatsächlich gibt es keinen Sektor des persönlichen und politischen Lebens in der UdSSR, der von diesem Gesetz nicht berühert würde: Wer kann ein Stück Erde erwerben? Wie können die örtlichen Sowjets Eigentum bilden, um handlungsfähiger zu werden? Wie sollen sich die materiellen Beziehungen zwischen der Zentralgewalt und den einzelnen Republiken gestalten? Von der Macht im Staate bis zur Macht auf einer winzigen Scholle reicht das Spektrum dieser Fragen für die das vorliegende juristische Projekt die Rahmenbedingungen schaffen muß.
Wie die Katzen um den heißen Brei wanden sich die konservativen Deputierten um den Begriff des Privateigentums herum. Die Kompromißformel, die schließlich in den Entwurf eingetragen wurde, lautet: „Die Bürger haben das Recht auf Eigentum, nicht nur an Konsumgütern, sondern auch an Produktionsmitteln.“ Wie sich zeigte, waren die Hauptfragen in dem Text noch ungenügend geklärt: Soll die Zentralmacht überhaupt kein Verfügungsrecht mehr auf Bodenschätze, Weiden und Wälder in den Einzelrepubliken haben? Und wie steht es mit dem Recht der zahllosen winzigen Naturvölker auf die Erde ihrer Vorfahren, die manchen von ihnen, wie die sibirischen Nomadenvölker der Jakuten und Tschuktschen als heilig verehren?
In diesem Zusammenhang legen manche der Deputierten aus Randrepubliken, die den Russen sonst so gerne Großmachtdenken vorwerfen selbst ein Großmachtgebaren gegenüber den betreffenden Minderheiten an den Tag. Noch weitergehende Aspekte berührte in seinem Redebeitrag der Geologe Judin aus Magadan: „Die meisten werden wohl über die Frage lachen, wem der Wind oder der Regen gehören sollen. Aber wenn der Regen sauer ist und die Luft voller Abgase, dann stellt sich die Frage anders: wer kann für den Schaden, den sie der Natur bringen verantwortlich gemacht werden?“ Judin schlug überdies vor, in dem Gesetz das „geistige Eigentum“ speziell zu schützen und den Status des „Nationalen Gutes“ für für Kulturdenkmäler zu schaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen