: Berlin Alexanderplatz: Geschichte wird gemacht
500.000 demonstrierten am Samstag in Ostberlin für Reformen / DDR-Regierung läßt über Prag ausreisen / 15.000 kamen am Wochenende in die BRD ■ Von Georgia Tornow
Was am Samstag auf den Straßen der Hauptstadt und auf dem Alexanderplatz sichtbar wurde - diesmal eben nicht bei einer Nach-Feierabend-Demo in Dämmerung und Dunkelheit - das ist das Material, an dem sich für die nächste Zukunft die SED ihre Zähne ausbeißen und die Opposition den Verstand schärfen muß. Und umgekehrt. Nach der klugen Entscheidung, die erste nicht staatlich organisierte Massenkundgebung auf dem Alexanderplatz in einer Direktübertragung des Fernsehens auszustrahlen, ist für alle Bürgerinnen und Bürger in der DDR die wichtigste Basisinformation gegeben: das derzeitige politische Angebot.
Im Atem der Geschichte steht der Mensch nicht gern alleine, und wenn „das Volk“ als Hauptakteur angesagt ist, schon gar nicht. Alle können es sehen: das Volk besteht aus Freundeskreisen. Als sie am ADN-Gebäude losgingen, gab es noch eine Reihenfolge einzelner politischer Gruppen. Am Palast der Republik sind die Reihen dann breiter geworden. Die Vielfalt der Anliegen überwältigt: Forderungen nach 'freien Wahlen‘,'SDP zulassen‘, 'Neues Forum zulassen‘, dann der schriftliche Hochruf 'Es lebe die Oktoberrevolution von 1989‘ bis zum anarchistischen Wunsch, 'Nicht andere Herren, sondern keine‘. Ein Frauenblock zieht vorbei, schwarz-rote Fahnen tauchen auf, die meisten Menschen gehen aber dazwischen, nicht politisch festgelegt. Diese Demonstration ist riesig, lebhaft, und trotzdem doch so leise.
Zwar gibt es ein paar Musikanten-Gruppen unter den Hunderttausenden, gemeinsam laut wird es aber spontan vor allem da, wo die Demonstrationsrituale der Vergangenheit durch den Kakao gezogen werden. Der altbekannte, rhythmische Beifall kommt auf, als „die Massen“ den Balkon am Palast der Republik passieren. Nachdem sich eine Gruppe direkt unter das Staatswappen auf den Balkon postiert hatte, wurde ihre Parole immer wieder als Hit des Tages gegen die Schnell -Wender bejubelt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, eh er nicht mit der Lüge bricht, auch wenn er jetzt ganz anders spricht.“
Die Ordner mit ihren gelb-grünen Schärpen - alles Männer, „wir sind doch hier auch eher gefordert“ - sind weitgehend die einzigen, die die „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Volkspolizei und dem Künstlerverband als Organisator der Demonstration repräsentieren. Die Polizei tritt nur einmal massiv in Erscheinung, als nämlich die an ihrer Fahne und zwei Vermummten zu erkennende Anarcho-Block auf dem Marx -Engels-Platz einläuft und ein paar Meter in Richtung 'Unter den Linden‘ von der allgemeinen Route abweicht. Die Menschen buhen, die Ordner rufen „Keine Gewalt“, aber niemand könnte friedlicher sein als diese schwar-rote Gruppe.
Der erste Komplex der Veranstaltung nimmt den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Regime-Kritiker auf: das Prinzip Rechtsstaatlichkeit. Wie massenhafter Nachhilfeunterricht im Fach Staatsbürgerkunde mutet das Verlesen von Verfassungsartikeln und Strafgesetzen der DDR an. Doch hören wir manches, was in dem bisherigen Verhältnis zwischen Staat und Bürgern nicht vorkam, bisher als subversives Gedankengut galt.
Während der bekannte Rechtsanwalt Gregor Gisy unter Beifall und in der Tradition seiner Zunft feststellte: „Die beste Staatssicherheit ist die Rechtssicherheit“, repräsentierte Marianne Birthler von der Berliner Kontakt-Telefongruppe einer Art Ermittlungsausschuß von Bürgern in Sachen Polizeiübergriffe am 7. Und 8. Oktober - die direkte Einmischung von Bürgerinnen und Bürgern zur Sicherung ihrer Rechte. Sie bekam viel Beifall, als sie die Installierung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses bekanntgab, der mit dem vom Ostberliner Magistrat noch vor dem Wochenende hastig eingesetzten offiziellen Untersuchungsgremium nur dann kooperieren soll, wenn gesichert ist, daß auf offizieller Seite niemand mitarbeitet, der selber in die Übergriffe verwickelt ist.
Zu dem dramaturgischen Einfall, den Liedermacher Kurt Demmler über den Stasi und das Abhören singen zu lassen, bevor Markus Wolf sprach, kann den Veranstaltern nur gratuliert werden. Wolf, vor seiner Pensionierung 33 Jahre lang General im Ministerium für Staatssicherheit, erinnerte, bisher sei bei allen Führungswechseln von kommunistischen Parteien Blut geflossen und gerade deshalb müsste den Menschen auf diesem Platz besonderer Respekt gezollt werden. Doch solle die Stasi nun nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden, die früheren Fehler müßten politisch verantwortet und politisch korrigiert werden. Auf dem Platz bekam er nur spärlich Beifall und viele Buh-Rufe.
Schabowski, Chef der SED in der Hauptstadt und damit noch klarer ein Sinnbild für die Kontinuität des Führungsanspruchs der Einheitspartei, bekam ein weitaus schlechteres Ergebnis. Mitten in seiner Rede mußte ihm ein Veranstalter beispringen gegen die überbordenden Rufe „Aufhören, aufhören!“ - und das, obwohl Schabowski darauf bestand, „Wir lernen unverdrossen!“
Die SED kann hier keinen Blumentopf gewinnen,“ war die übereinstimmende Meinung von vier jungen Leuten, die das historische Ereignisse mit ihrer Praktika-Ausrüstung festhielten. Die kecke Russin unter ihnen war besonders erbost darüber, „daß sich diese SED-Leute die Perestroika greifen wie ein Sonderangebot im Kaufhaus Centrum“. Berufspolitker würden gebraucht, meinten sie trotz des skeptischen westlichen Blicks übereinstimmend.
Manfred Gerlach, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei, brachte die Massen wirklich zur Begeisterung. Angefangen von seiner Anrede „Mündige Bürgerinnen und Bürger!“ bis hin zur Feststellung: „Es geht jetzt um Entscheidungen, es geht jetzt um den Rücktritt der Regierung.“ Er gehörte auch zu den wenigen, die direkt die Frage des Flüchtlingsstroms in die Bundesrepublik ansprachen. „Das ist ein Demagoge!“ war die halb kritische und halb anerkennende Reaktion der wild applaudierenden Hobby-Fotografen. „Aber sowas brauchen wir eben jetzt auch.“
Opposition und SED gleichermaßen wurden dann die Hausaufgaben gestellt. Die verschiedensten Einzelpersönlichkeiten mit einer systemkritischen Position, von Stefan Heym über Christa Wolf bis zu Pfarrer Friedrich Schorlemmer hatten in ihren Beiträgen vor allem einen gemeinsamen Grundton: der jetzt eingeleitete Prozess solle unumkehrbar werden. Nicht nur eine Dialog-Strategie zum Dampfablassen, sondern auch ein Prozess der grundsätzlichen Veränderung der DDR-Gesellschaft sei nötig. Von der Erneuerung des Bildungssystems über die Gründung unabhängiger Gewerkschaften - eine Forderung, die zur allgemeinen Verwunderung nicht etwa von einem Arbeiter oder Gewerkschafter, sondern von dem Dramatiker Heiner Müller vorgetragen wurde - bis zum „Abbau des Angstapparats Stasi, den wir weder weiter tolerieren, noch weiter finanzieren wollen“, so Friedrich Schorlemmer.
Selbstbewußtsein und Stolz, in Wandlitz, dem „Hochsicherheitstrakt der Nomenklatura“ die Verhältnisse zum Tanzen gebracht zu haben, kamen von der Tribüne, schallte vom Platz. Nachdenklich still wurde es immer dann, wenn die Flüchtlingswelle, die Bewegung derer, die nichts wie weg wollen aus der DDR, angesprochen wurde. Denen, die geblieben waren, konnte Schorlemmer unter starkem Beifall sagen, bald würden sie alle „Auferstanden aus Ruinen...“, die DDR -Nationalhymne, wieder mit Freude singen. Und Christa Wolfs Wiederholung eines Transparents löste Jubel aus: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner läuft weg!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen