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„Den Giftmüll selber fressen“

■ In der DDR wachsen die Proteste gegen den Mißbrauch des Landes als Mülleimer Europas

In der DDR fallen täglich neue Tabus. Erstmals hat vergangene Woche das mweltmagazin im DDR-Fernsehen die Müllbeseitigung des Landes zum Thema gemacht und dabei die deutsch-deutschen Müllgeschäfte ins Visier genommen. „Müssen wir bei den Devisengeschäften mit Westmüll nicht am Ende draufzahlen?“ wurde gefragt. Die Frage ist berechtigt, denn in derselben Sendung wurden die bitteren Konsequenzen dieser Devisenpolitik sichtbar. Tenor: Ein Land, das schon mit seinen eigenen Müllbergen nicht fertig wird, holt sich in seiner Devisennot noch Millionen Tonnen ausländischer Abfälle dazu.

Durch den Westmüll-Import wird die beste Deponietechnik der DDR in Beschlag genommen. Der eigene Müll wird dagegen auf dubiosen Kippen abgeladen. Nicht weniger als 6.500 unkontrollierte Deponien hat die Umweltinspektion inzwischen ermittelt. Bernd Reise, Abfallspezialist im Ostberliner Umweltministerium, bestätigt die desolate Abfallbeseitigung und das Sicherheitsgefälle zwischen Westmüll- und Ostmüll -Deponien. Ein Verzicht auf weitere Importe würde das Müllproblem im Lande „sicher entlasten“, sagte er gestern der taz. Doch damit ist kaum zu rechnen. Langfristige Knebelverträge, zum Beispiel mit dem Berliner Senat, geben auch einer neuen DDR-Regierung keinen Handlungsspielraum.

Ein zweites drängendes Problem zeigt sich jetzt bei den DDR -Deponien Vorketzin und Schöneiche, die beide mit Berliner Wohlstandsmüll aufgefüllt werden. Dort sind alarmierende Grundwasserkontaminationen festgestellt worden. Die (Gift-) Brühe sickert aus den ungenügend abgedichteten Müllkippen ins Grundwasser und gefährdet die Trinkwasserversorgung der Gemeinden Kallinchen, Gallun, Mittenwalde und Schöneiche. Bisher sind bereits acht Trinkwasserbrunnen geschlossen worden. Die Deponien müßten dringend saniert werden, doch für solche sündhaft teuren Maßnahmen fehlt das Geld.

Anwohner und Umweltgruppen drängen auch in der Abfallpolitik auf eine Wende. Vergangene Woche trafen sich 200 aufgebrachte Bürger in Kallinchen und machten ihrer Empörung Luft. Von den giftigen Sickerwässern, die ihr Trinkwasser verseuchen, hatten sie keine Ahnung: „Warum haben wir jetzt erst erfahren, daß wir das Wasser nicht mehr trinken können“, fragte die Bürgermeisterin von Gallun.

Die volle Wahrheit über die Müllgeschäfte wollten letzte Woche auch 500 Demonstranten in Schönberg wissen. Zehn Prozent der Einwohnerschaft protestierten gegen Europas größten Müllhaufen und verlangten Aufklärung über den Verbleib der Devisen. An dieser Aufklärung ist offenbar auch die Staatsanwaltschaft interessiert. Das Dokumentenarchiv der Deponie wurde beschlagnahmt und versiegelt.

Inzwischen machen sämtliche großen Umweltorganisationen der DDR gegen den deutsch-deutschen Mülltourismus mobil. In einem von allen relevanten Gruppen unterzeichneten offenen Brief an die Berliner Umweltsenatorin Schreyer wird „jeder weiteren Giftmüllverschiebung der Kampf angesagt“ und Glasnost im Giftmüll-Tourismus verlangt: Die rückhaltlose Aufklärung der Müllgeschäfte und die Veröffentlichung aller Daten, Müll-und Geldmengen.

Einen Forderungskatalog mit zwölf Punkten hat eine Umweltkommission der Gemeinden Schöneiche, Kallinchen, Gallun und der Kreise Zossen und Könisgwusterhausen verabschiedet. Darin wird nicht nur ein von Ost und West gemeinsam getragenes Sanierungsprogramm für die Deponie Schöneiche verlangt, sondern erstmals auch der Kopf eines Ministers. Das Opfer: DDR-Umweltminister Reichelt, der bisher auf sonderbare Weise von der Rücktrittslawine verschont wurde. Daß er die Wende langfristig überleben wird, damit rechnet in der DDR aber niemand mehr, zumal Reichelt für die Abfall- und Umweltmisere maßgeblich verantwortlich ist. Die Parole „Uns Reichelt's“ ist inzwischen fester Bestandteil von Parolen der Umweltgruppen in der DDR.

Eine ganz andere Parole hat der 'Telegraph‘, das Info-Blatt der Ostberliner Umweltbibliothek jetzt veröffentlicht. Als Empfehlung an den Westen heißt es dort in einem Beitrag über die DDR als Müllkippe Europas: Entweder „die Giftproduktion einstellen oder den Giftmüll selber fressen“.

Manfred Kriener

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