KINDER DES EROS

■ Die multimediale Performance „Allerleirauh“ in der Gethsemanekirche

Flucht ins Geheimnis aus Notwehr: auf diese Headline könnte man in dieser kurzlebigen Zeit den Sinngehalt des Grimmschen Märchens „Allerleirauh“ vor seinem Happy End reduzieren. Denn die Rettung vor dem dumpfen Inzesttrieb des königlichen Vaters gelingt der eigenwilligen Tochter nur durch einen modischen Trick: Sie schwärzt das Gesicht, schlüpft in lederne Kleidung, lebt fortan, als Allerleirauh eben, im Underground. So widersteht sie dem Schlimmsten, der Einwilligung in die Spielregeln pervertierter Macht. Mode als Hülle der Freiheit, der soziale Aufstieg in Kauf genommener Preis des „anderen“ Lebens.

Fast eine DDR-Generationsmetapher also, und die Augen der Ladies in black, die kurz vor Jahresende so zahlreich zur multimedialen Performance „Allerleirauh“ in die Ostberliner Gethsemanekirche eilten, sprachen Bände, randvoll mit den skurrlen Geschichten einsamer Revolte: dr Staat und seine zornigen Töchter. „Allerleirauh“ für Allerleirauhs? Doch wer in die Weihestätte des Oktober-Aufruhrs gekommen war, um dort beim angezeigten „Spiel mit Erde, Feuer, Hall und Leder“ das Feuer der DDR-Revolution schüren zu helfen und mit Hilfe evangelischer Kirchenakustik die Hymne der Subkultur anzustimmen, wurde arg enttäuscht.

Nicht der unbändige Haß auf Betonköpfe und Speerspitzen einstiger und noch existierender Verhältnisse, nicht Rachegelüste entäußerten sich da im theatralischen Spiel der knapp siebzig Akteure unterschiedlichster Genres. Mit Schminkmasken und Weihrauchdüften, mit Fotoprojektionen und Oscar-Wilde-Zitaten warb man im Gegenteil um Toleranz für die alles heilende Religion der Liebe und machte dabei im wahrsten Wortsinne den Altar zur Bühne. Von den kerzenbestückten Emporen der durchaus robuste Töne gewohnten Gethsemanekirche drangen eher gregorianische Sounds (Musik: Bob Schunke/Nino Sandow), raffinierte Lichttechnik und pyromanischer Eifer (Bühne: Rene Le Doil/Dirk Wunderlich) schufen einen stimmungsvollen Background für die Models, Schauspieler und Tänzer im Dienstauftrag einer neuen Mythologie. Kinder des Eros, allerseits rückwärtsgewandt. Denn fern vom europäischen Zukunftsschock projizierten sich die Akteure dank multimedialer Arrangements und den Kunstkostümen der Modedesigner um Angelika Krocker (die auch Gesamtregie führte) abwechselnd in biblische und mittelalterliche Zeiten, um dann wieder wie antike Satyrn durch den Bühnenraum zu tollen. Darüber mit etwas undeutlich -gequälter Frauenstimme der dramaturgische Aufhänger des Abends, der ideell Tenor der Show: Platons Exkurs über die Liebe.

Von der Lust auf schöne Leiber, über die Kunst schöner Lebensführung bis hin zur hehren Größe schöner Erkenntnisse geht nach Ansicht des alten Philosophen der schwere Weg der Erfüllung. Wenn dies der anerkannte Katechismus der Gruppe sein sollte, dann befanden sich die in manchen improvisierten Szenen ganz knapp am Exhibitionismus vorbei agierenden Darsteller wohl noch in der ersten Phase, im Rausch der Kleider und Körper.

Ein Modeabend mit existentiellem Pathos oder ein verspäteter Ableger des Living Theatre mit etwas süßlicher Dominanz? Wohl beides und nichts richtig. Andre Heller jedenfalls hätte garantiert seine Freude daran gehabt. Aber urteile man nicht zu schnell, denn im Märchen braucht es dreier rauschender Feste zum Happy End. Nach dem dritten kann Allerleirauh ihre wahre Schönheit nicht mehr unter schwarzem Leder verstecken und wird, Ironie oder Schicksal, Gattin des neuen Königs. Das Projekt „Allerleirauh“ feierte nach dem ersten im Jahr 1987 nun sein zweites Liebesfest. Man sollte jedenfalls dabeisein, wenn beim dritten die Hüllen fallen. Und vielleicht erscheint dann unverhofft die wahre Gestalt des mythischen Unternehmens: eine Sphinx ohne Geheimnis.

Paul Kaiser (Ost-Berlin)