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Learn democracy!

Zum möglichen Bruch in der DDR-Opposition über ein neues Wahlgesetz  ■ G A S T K O M M E N T A R E

Soeben hat der runde Tisch eine Belastungsprobe bestanden die drohende Umwandlung der Staatssicherheit in ein Verfassungssschutzamt - , und schon steht die nächste ins Haus. Bei der Beratung des Wahlgesetzes könnte die SED die lachende Dritte sein, sollten alte Block- und neue Oppositionsparteien gemeinsam gegen den Teil der Opposition stimmen, der sich nicht in ein Parteistatut pressen lassen möchte. Die Parteien wollen - nachdem sich die SED in der Vergangenheit mit ihren 5. Kolonnen FDGB, FDJ usw. automatisch eine Mehrheit gesichert hatte Bürgerbewegungen und politische Vereinigungen von den Wahlen ausschließen. Diesmal ist aber nicht zu befürchten, daß dieses Modell funktionieren könnte, denn Stimmen für die ehemaligen Mehrheitsbeschaffer gingen auf Kosten der SED. Außerdem kann ein Wahlgesetz durchaus politische Bürgervereinigungen sowohl von sozialen Interessenverbänden unterscheiden als auch die Mitgliedschaft ihrer Kandidaten in einer Partei ausschließen.

Der Kern dieses Streits läßt sich auf ein unterschiedliches Politikverständnis reduzieren. Nennenswerte programmatische Diffenrenzen sind nämlich kaum erkennbar. Den Bürgerbewegungen geht es um die Möglichkeit parlamentarischer Mitsprache abseits von Parteihierarchien. Sie wollen sich auch nicht voreilig das Parteienspektrum der Bundesrepublik überstülpen lassen. In den Ländern des nunmehr zerfallenen Ostblocks waren es überall Bewegungen für Menschenrechte, Demokratie und Volkssouveränität die den Willen desw Volkes erst artikulierten, dann repräsentierten. In der schwierigen Übergangsphase wurden sie dank ihres großen Vertrauenkapitals zu den entscheidenden Garanten für einen friedlichen Verlauf dieses Prozesses. Solidarnosc in Polen, Sajudis in Littauen, die Charta 77 und das Bürgerforum in der Tschechoslowakei haben mit ihrem Beharren auf grundlegenden Werten auch eine neue politische Kultur in unseren Gesellschaften befördert. Weder Tadeusz Mazowiecki noch Vaclav Havel gehörten jemals irgendeiner politischen Partei an. Dennoch haben sie bisher mehr erreicht, als die DDR-Opposition, und das trotz eklatanten Mangels an westlichen Schwester- und Bruderparteien. Learn democracy! Uns scheint es besonders schwer zu fallen. Sollte am Montag nach dem runden Tisch ein Riß durch die Opposition gehen, wäre die Unfähigkeit zum Kompromiß offenbar und die Verwirrung im Lande heillos. Unter den Delegierten der SDP -Parteikonferenz, die an diesem Wochenende in der Kongreßhalle tagt, befinden sich viele meiner geschätzten Weggefährten. Sie haben es in der Hand, ob sie die Verbindung durchhalten oder sich von denen trennen wollen, die es vorziehen, auch künftig nicht mit Genossin oder Genosse angesrpochen zu werden.

Ludwig Mehlhorn

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