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„Das Reich der Thatsachen hat gesiegt“

Das rassenhygienisch-eugenisch geprägte Gesellschaftsmodell des Dritten Reiches war unter deutschen Ärzten durchaus konsensfähig / Die „Soziale Frage“ war lange vor deren „Lösung“ durch die Nazis in der Wissenschaft formuliert worden / Eine wirkliche Stunde Null hat es nach dem Ende der Naziherrschaft nicht gegeben  ■  Von Roland Reck

„Ich glaube, in den Schrecken des Dritten Reiches ein einzigartiges, exemplarisches, symbolisches Geschehen zu erkennen, dessen Bedeutung allerdings noch nicht erhellt wurde: die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir alle es wirklich fertigbringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen.„(Primo Levi)

Die Soziale Frage: Wohin mit den Alten, Armen, Kranken, Arbeitslosen, Behinderten und Irren - den „Minderwertigen“, den „Ballastexistenzen“? Eugenik und Rassenhygiene boten wissenschaftliche Rezepte zur Lösung dieses „Problems“ nicht nur in Deutschland. Aber in Deutschland fanden sie im Nationalsozialismus ihre gnadenlose Anwendung. Wenn die Lösung der Sozialen Frage Antrieb und Ziel nationalsozialistischer Verbrechen war und ihre „Lösung“ von Wissenschaftlern, allen voran Ärzte, vorbereitet und betrieben wurde, dann war der nationalsozialistische Massenmord (auch) Ausgeburt einer wissenschaftlichen Ethik, die bis heute fortdauert. Liegt darin der Grund, warum die Wissenschaft im Nationalsozialismus so wenig akademisches Interesse fand?

Paula F. starb 1943 in der psychiatrischen Anstalt im hessischen Hadamar. „Als ich am 17.Juli meine Sachen packte, wurde mir gesagt, daß ich nicht alle meine Sachen mitnehmen könnte. Es wurde mir überhaupt auf die letzte Minute klargemacht, daß ich mitfahren müßte... Ich bin jetzt sieben Wochen hier und bitte höflichst um Angabe, ob ich bald mit der Zusendung der Sachen: zwei Wärmflaschen, eine Fußflasche und eine Gummiflasche rechnen könnte. Ich bin magenleidend und brauche nötig diese Flaschen, zumal im Krieg dafür kein Ersatz zu haben ist. Außerdem meine ich wegen Platzmangel noch ein paar schwarze niedrige Schuhe dort gelassen zu haben. Auch diese Schuhe brauche ich nötig, da ich diesen Gegenstand heute nicht ersetzt bekomme. (...) Ich bitte gefälligst um solche Veranlassung, daß mir mein Eigentum zurückerstattet wird oder wenigstens etwaige Hinderungsgründe, wenn solche bestehen sollten, freundlichst angeben zu wollen. Mit aller Hochachtung Paula F.“ (Zitiert nach Klaus Dörner im 'Deutschen Ärzteblatt‘ 1989)

Nach den vielen Jahren ihres Aufenthaltes habe sie sich in der Gütersloher Anstalt wie zu Hause gefühlt, schreibt sie nach ihrer plötzlichen Verlegung in eine hessische Anstalt an den Direktor in Gütersloh und bittet um Nachsendung ihrer Wärmflaschen. Paula F. befindet sich zu dieser Zeit in einer „Zwischenanstalt“ - Endstation Hadamar: 1943 wird sie dort als „unheilbar Kranke“ zur „Reinigung des Volkskörpers“ umgebracht.

Rund 100.000 Menschen, Behinderte und solche, die dafür gehalten wurden, fielen ab Ende 1939 den mörderischen Euthanasieaktionen zum Opfer, darunter mehrere tausend Kinder. 300.000 bis 400.000 Zwangssterilisierte und ungefähr 120.000 Tote, die man als „lebensunwert“ einfach in den Anstalten verhungern ließ, ergänzen die Schreckensbilanz. Beteiligt daran waren immer auch Ärzte.

Erst 46 Jahre, nachdem Paula F. in der Gaskammer starb, bekannte der Münstersche Medizinhistoriker Prof. Toellner in einem Grundsatzreferat auf dem Ärztetag 1989 in Berlin, „daß die Ärzteschaft in den Jahren des Dritten Reiches sich insgesamt moralisch dadurch schuldig gemacht hat, daß sie unärztliche Handlungen im großen Stil zugelassen hat (...), daß Ärzte sich erstmals in einem Umfang, dessen Weite wir immer noch nicht genau wissen, sich an klar verbrecherischen Handlungen beteiligt haben“.

Von einer „moralischen Kollektivschuld“ zu sprechen, ist aber auch heute noch starker Tobak für die reizbaren Atemwege des deutschen Nachkriegsgewissens. Zwar spendete die versammelte Ärzteschaft in Berlin Professor Toellner artig Beifall, ging danach aber ungebrochen zur Tagesordnung über. Eine Diskussion seines Beitrags war nicht vorgesehen. Wer nicht fragt, findet keine Antworten - und wird durch sie nicht beunruhigt. Was, wenn Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten der (Nazi-)Großväter und dem eigenen auftauchen und die Abwehr ins Wanken gerät? Was, wenn die Frage nach dem Warum direkt aus der Vergangenheit in die Gegenwart führt?

Hätten die Ärzte in Berlin nachgefragt, wären sie der Feststellung näher gekommen, daß nicht die Nazis die Ärzte mißbrauchten, sondern diese - und sicher nicht nur sie sich ihrerseits auch der Nazis bedienten. Es waren nicht allein die kranken Gehirne der Nationalsozialisten, aus denen die wahnhafte Vorstellung kroch, daß nur mit Hilfe einer umbarmherzigen Rassenhygiene der „Degenerierung und Entartung der arischen Rasse“ Einhalt geboten werden könne. Der Nationalsozialismus führte auch aus, was moderne Wissenschaft zuvor bereits erdacht und formuliert hatte.

Das „rassenhygienisch-eugenisch geprägte Gesellschaftsmodell war insgesamt bei einer zu großen Zahl deutscher Ärzte konsensfähig geworden“, schreibt Gerhard Baader, Professor für Geschichte der Medizin an der Freien Universität Berlin, in seinem Beitrag zur Standesgeschichte im Deutschen Ärzteblatt 1988 (Heft Nr.27). „Es fehlte nur noch der starke Mann, der es in die Tat umsetzen konnte; dies sollte 1933 geschehen. Eines der ersten eugenischen Gesetzesvorhaben, das im Kern bereits als Schubladengesetz der Weimarer Republik vorlag, war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es fand kaum aktiven Widerstand bei der Mehrzahl der deutschen Ärzte, denn - abgesehen von seiner zwangsweisen Durchführung - entsprach es den eugenisch-rassenhygienischen Diskussionen, die schon die ganze Weimarer Republik erfüllten. Rassenhygiene war somit als Vernichtungsstrategie eine der entscheidenden Grundlagen der Medizin im Nationalsozialismus geworden. Ihre Wurzeln führen (...) ins 19.Jahrhundert zurück.“

Solche Wurzeln, von denen der Berliner Medizinhistoriker spricht, lassen sich bei Friedrich von Hellwald finden, einem Schriftsteller, der auf geographischen, anthropologischen und kulturhistorischen Feldern zu Hause war. 1873 formuliert er das „Glaubensbekenntnis eines modernen Naturforschers“. Von Hellwald bejubelt euphorisch die naturgesetzliche Kraft des technischen Fortschritts, nicht ahnend, daß dieses Wundermittel wahnhafte Wirkung hervorruft. „Das Reich der Thatsachen hat gesiegt! Die Naturforschung in Verbindung mit ihren zwei Sprößlingen Technik und Medicin schreitet unaufhaltsam vorwärts. Sie hat schon jetzt alle besseren Köpfe in Besitz genommen und hat nur Träumer oder Schurken gegen sich. Sie ist in alle Gebiete eingedrungen, sie gestaltet alle anderen Wissenschaften um, sie beherrscht unser ganzes Familien- und Staatsleben. (...) Warum sollten wir ihr den Einzug in das gewöhnliche Denken der Leute verschließen? Lasse man ihr Licht offen hineinscheinen in die Köpfe! Keine Heuchelei mehr, keine Schönfärberei, keine Vermittlungsversuche.“ (Zitiert nach Gunter Mann, in: Dt.Ärzteblatt, 1988, Nr.17, S.836)

Das ist formulierter Zeitgeist, 25 Jahre nachdem, als eine der wenigen realisierten Forderungen aus dem Revolutionsjahr 1848, das Philosophikum im Medizinstudium durch das Physikum ersetzt worden war, und 14 Jahre nach dem Erscheinen des epochemachenden Werkes von Charles Darwin über die Entstehung der Arten. Biologismus, das Übertragen biologischer Modelle auf fast alle Seins- und Wissensbereiche, wurde intellektueller Zeitgeist. Der Sozialdarwinismus ward geboren.

Es war ein Vetter desselben Darwin, Francis Galton, der sich besonders bemühte, die Vererbung der geistigen und der charakterlichen Eigenschaften des Menschen nachzuweisen, mit dem Forschungsziel, die menschliche Rasse genetisch zu verbessern. Dafür prägte er 1883 den Begriff der „Eugenik“. „Degeneration“ führe zum „Niedergang der Völker“, schrieb bereits Mitte des 18.Jahrhunderts der vielgereiste französische Graf, Diplomat und Geschichtsphilosoph Gobineau. Gegen Ende des Jahrhunderts erscheint sein aufsehenerregendes Werk „Der Sturz der Civilisation“ auf deutsch. Gobineau, der in seiner Rassenlehre die „Arier“ als die „edelste“ unter allen anderen zur „erlauchten Menschenfamilie“ erhebt, sieht dennoch schwarz: „Alle menschlichen Gesellschaften gehen abwärts, (...) alle sage ich, und nicht diese und jene.“ Verantwortlich dafür macht er, „daß ein Volk (...) nicht mehr den inneren Werth hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben.“ (Zitiert nach Gunter Mann, 'Dt.Ärzteblatt‘, 1988, Nr.17)

Den Blickwinkel für diesen Kulturpessimismus beschreibt der Medizinhistoriker Gerhard Baader: „Indizien oder Ursachen des Menschheitsverfalls sind dabei das herrschende Parteienwesen, der technische Fortschritt, das kapitalistische Wirtschaftssystem, die industrielle Großstadt, die Vivisektion, der sinnlose Luxus, der Alkoholismus, die Schutzimpfung und vieles andere mehr.“ (Zitiert in: 'Dt.Ärzteblatt‘, 1988, Nr.27, S.1.358)

Verständlich wird diese Zukunftsangst vor dem Hintergrund der umwälzenden Veränderungen, die die industrielle Revolution mit sich bringt. Das soziale Gefüge der vorindustriellen Epoche bricht auseinander. Verarmung, Verstädterung und Verslumung sind die Kennzeichen eines wachsenden Industrieproletariats. Die Soziale Frage taucht auf: Wohin mit den Kranken, Armen, Alten, Arbeitslosen, Behinderten und Irren? Die wachsende Zahl derer, die „industriell unbrauchbar“ waren, wie sich der Gütersloher Psychiatrieprofessor Klaus Dörner ausdrückt, bedrohten nach Meinung der bürgerlichen Wissenschaft den Fortbestand der Rasse.

Was Wunder, daß der Mediziner Alfred Ploetz (im folgenden zitiert nach Gerhard Baader, 'Dt.Ärzteblatt‘, 1988, Nr.27, S.1.359) mit seiner „Rassenhygiene“, der „Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung und Vervollkommnung“ der menschlichen Rasse, zur Jahrhundertwende (1895) den wissenschaftlichen Diskurs bestimmte. Er teilte die Sorge seiner beiden Ärztekollegen Max von Gruber und Ernst Rüdin, die sich 1911 darüber beklagten, daß alle Kulturvölker „eine außerordentlich große Zahl von Minderwertigen, Schwächlingen, Kränklichen und Krüppeln mit sich schleppen“ müsse. Damit nicht genug, gäbe es auch noch eine „wachsende Zahl in den öffentlichen Anstalten verpflegte Irrsinnige“. Um Abhilfe zu schaffen, gelte es, den Kampf ums Dasein in aller Schärfe zu erhalten, weshalb Ploetz auch Kranken- und Arbeitslosenversicherung als schädliche Aufhebung des Kampfes ums Dasein ablehnte. Nach Ploetzens Vorstellungen sollte das Recht auf Kinder nur denjenigen Elternpaaren zuerkannt werden, deren „rassische Hochwertigkeit“ die Wissenschaft ermittelt hatte. Ploetz: „Stellt es sich trotzdem heraus, daß das Neugeborene ein schwächliches Kind ist, so wird ihm vom Ärztekollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium...“

Damit dieser Kampf ums Dasein nicht mehr länger nur in den Gelehrtenstuben ausgefochten werde, gründete Ploetz unter Mitwirkung anderer namhafter Wissenschaftler 1905 die „Gesellschaft für Rassenhygiene“. Seine Bemühungen hatten Erfolg. Aus den Gelehrtenstuben heraus war die Rassenhygiene 1931 zum Thema des Preußischen Staatsrates geworden. Scheinbar harmlos ging es in einem Iniativantrag, den der Mediziner und Biologe Dr.Struwe begründete, um die Aufnahme der Eugenik als Pflicht- und Prüfungsfach in der Ausbildung von Theologen, Pädagogen und Ärzten, doch Struwes Begründung ließ bereits das „Endziel“ erkennen. In bester volkswirtschaftlicher Manier klagte er über die immensen Kosten, die die steigende Zahl der „Alkoholiker, Geschlechtskranken, Tuberkulösen, Geisteskranken, Simulanten und Psychopathen“, einschließlich „der Kinder in den Hilfsschulen“ dem Staat tagtäglich abverlange. Von der Volkswirtschaft zur Soziologie wechselnd, erklärte er den „Kampf zwischen Hinterhaus und Vorderhaus“ als naturgegeben, um schließlich sein Plädoyer als Kleingärtner mit der Aufforderung zu beenden: „Wir (müssen) nun das Jäten und Roden lernen.“ Was daraus wurde, ist bekannt.

Die Frage nach dem Warum dieses fabrikmäßigen Mordens mündet in eine Rationalität, die furchtbarer und erschreckener ist als alle „irrationalen“ Deutungsmuster. Klaus Dörners „Soziale Frage“ steht dabei mit im Zentrum. In seinem Buch Tödliches Mitleid, das sich wie eine Antwort auf Singers Praktische Ethik liest, formuliert er seine zentrale These: „Es ist (...) die entscheidende Absicht der Nazis gewesen, der Welt zu beweisen, daß eine Gesellschaft, die sich systematisch und absolut jedes sozialen Ballastes entledigt, wirtschaftlich, militärisch und wissenschaftlich unschlagbar sei, eine Absicht, die sich auch nur schwer widerlegen läßt, wenn man die Logik und Ethik der Industrialisierung konsequent zu Ende denkt, insofern auch eine Absicht, die in der Tradition der fortschrittlichen Moderne gut abgesichert ist.“ (aus: Tödliches Mitleid S.10)

Und daß in dieser Lösung der Sozialen Frage ebenso die Judenvernichtung wie auch der Vernichtungskrieg im Osten eingeschlossen war, versuchten die beiden Historiker Götz Aly und Susanne Heim bei einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum Thema „Wissenschaft und Massenvernichtung - Zur Rationalität nationalsozialistischer Vernichtungspolitik“ (23./24.Juni 1989) zu belegen. „Das Konzept einer 'Ökonomie der Endlösung‘ wurde von deutschen Akademikern entwickelt - allen voran Ökonomen, Agrarwissenschaftler, Bevölkerungsexperten, Arbeitseinsatzspezialisten, Raumplaner und Statistiker. Sie entwarfen und diskutierten die Lösung der verschiedenen 'Bevölkerungsfragen‘ und berechneten die 'Druckentlastung‘, die durch die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft entstehe. Sie machten Vorschläge, die Ukraine als Kornkammer Europas zu nutzen - und implizierten dabei den Hungertod von 'zig Millionen‘ Sowjetbürgern. Sie berechneten die Defizite der Ghettowirtschaft - und lieferten so die Begründung für die Ermordung der Ghettobewohner“ (Heim/Aly, „Sozialplanung und Völkermord“, in: 'konkret‘ 10/89, S.82ff). Oder, um es mit den Worten Heinrich Himmlers zu sagen: „Man (kann) die soziale Frage nur dadurch lösen, daß man die anderen totschlägt, damit man ihre Äcker bekommt.“ (August 1942 in Kiew, zitiert in Heim/Aly, 'konkret‘ 10/89)

All dies ist Geschichte. Doch die Fortsetzung dieses Denkens, dieser Rationalität, die das Undenkbare möglich macht, findet sich in der Tatsache, daß die bundesdeutsche Humangenetik personell und inhaltlich aus der Eugenik und Rassenhygiene entstand. Eine Stunde Null hat es hier nie gegeben. Dafür steht als herausragendes Beispiel die nahtlose Karriere des Rassehygienikers Otmar von Verschuer („Die einzige wesentliche Rassegefahr durch die Juden hat durch die Politik des Nationalsozialismus ihre endgültige Regelung gefunden.“ Aus „Bevölkerungs- und Rassenfragen in Europa“, in: 'Europäischer Wissenschaftsdienst‘, Nr.1, 1944), der bereits 1951 auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Humangenetik an der Universität Münster berufen wurde.

Doch das Monstrum ethisch entkleideter, nur dem technisch Machbaren folgender Wissenschaft zeigt sich auch in den Experimenten US-amerikanischer Militärs und Wissenschaftler, die 250.000 US-Soldaten Atombombenversuchen aussetzten, um die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper zu studieren - zehn Jahre nach Hiroshima und Nagasaki. Kontinuität findet sich aber auch in dem Denken des australischen Moral(!)philosophen Peter Singer, der mit gesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen einerseits und der Forderung nach dem „größtmöglichen Glück“ andererseits die Tötung schwerbehinderter Neugeborener ethisch rechtfertigt.

Der Arzt und Soziologe Klaus Dörner warnt eindringlich: „Wenn mich nicht alles täuscht, wird sich die Soziale Frage in der nächsten Zeit für uns ein weiteres Mal zuspitzen. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist in uns allen zumindest als Möglichkeit das, was ich als entscheidende Absicht der Nationalsozialisten beschrieben habe, in Logik und Ethik durchaus weiterhin lebendig. Heute sprechen wir bereits von der Zwei-Drittel-Gesellschaft. Wenn im Jahre 2030 ein Drittel unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt sein wird, und wenn durch Fortschreitung der Automatisierung ein weiteres Drittel für die Wirtschaft zu inflexibel, zu langsam, zu dumm, in jedem Fall aber überflüssig sein wird, dann werden wir nur noch von der Ein-Drittel-Gesellschaft sprechen können und danach fragen müssen, wofür die restlichen zwei Drittel eigentlich noch da sind. Die heutige Sterbehilfediskussion, die Begeisterung für das Töten oder den Suicid von Behinderten, die Frage der Sterilisierung nichteinwilligungsfähiger Behinderter als Akt ihrer Befreiung, die Sorglosigkeit gegenüber der Massenarbeitslosigkeit und die Diskussion um die Gen -Technologie sind hinreichende Alarmzeichen...“ (Tödliches Mitleid, S.11f)

Fehlt nur noch der Hinweis auf unseren Umgang mit der Massenarmut in der sogenannten Dritten Welt, denn global betrachtet haben wir schon längst die Ein-Drittel -Gesellschaft.

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