: Die ausgeblendete Mehrheit
■ Der „Abschied vom Proletariat“ hat bei linken Intellektuellen die alten Klassenvorurteile wiederbelebt
Barbara Ehrenreich
Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber im Frühjahr und Sommer 1989 befanden sich insgesamt 50.000 amerikanische Bergarbeiter in zehn Bundesstaaten vier Monate lang im Streik. Die besondere Bedeutung dieses Ausstands liegt darin, daß das Mittel des gewaltlosen zivilen Ungehorsams in bisher ungekanntem Ausmaß im Arbeitskampf eingesetzt wurde: Tausende von Arbeitern samt Familienmitgliedern wurden bei friedlichen Blockaden von Bergwerkseingängen festgenommen. Das Militär wurde eingesetzt; in einzelnen Fällen wurde sogar auf Bergarbeiter geschossen.
Doch selbst als fleißige Zeitungsleserin könnte ich den Bergarbeiterstreik völlig verpassen. Mittlerweile beschäftigen sich die Zeitungen, die ich lese, auf den Titelseiten und in täglich neuen Meldungen mit dem Streik der Kumpel in der Sowjetunion. Ich mißgönne den mutigen sibirischen Bergarbeitern diese Berichterstattung keineswegs; sie waren schließlich mehr als in den USA (100.000) und leben in einem Land, das sich bis vor kurzem für eine „Diktatur des Proletariats“ hielt. Tatsächlich machen die Russen uns vor, wie eine anständige Berichterstattung aus dem Arbeitsleben aussehen könnte, wenn die amerikanischen Medien sich darauf einließen: Die Forderungen der Kumpel wurden wohlwollend präsentiert, die breiteren Auswirkungen des Streiks angemessen analysiert, und einzelne Streikführer wurden auch von ihrer menschlichen Seite unterhaltsam porträtiert.
Daß die Lage der amerikanischen Bergarbeiter hingegen ausgeblendet wird, zeigt die übliche Vorliebe der Medien für Arbeiteraufstände in anderen - besonders gerne: kommunistischen - Gesellschaften. Ein außerordentlich gutes Beispiel für diese Vorliebe ist die geradezu ekstatische Berichterstattung über Solidarnosc im Jahr 1981, gerade in dem Augenblick, als die amerikanischen Fluglotsen durch die Mühlen des Kapitals gedreht wurden. Aber in diesem Ausblenden zeigt sich auch ein US-typisches Phänomen: das Verschwinden der amerikanischen Arbeiterklasse aus den Medien, aus dem intellektuellen Leben oder, allgemein gesprochen, aus den Köpfen der amerikanischen „middle class“.
Hierzu eine schnelle Definition: Unter „working class“ verstehe ich nicht nur behelmte Industriearbeiter, sondern all jene Menschen, die keine leitenden Angestellten („professionals“), Manager oder Unternehmer sind; die nicht für Monatsgehälter, sondern für Wochenlöhne arbeiten und die während ihrer Arbeitszeit die unterschiedlichsten Tätigkeiten ausüben, wie z.B. sich bücken, fahren, vor Überwachungsbildschirmen, an Schreibmaschinen und Computern sitzen; zur Betreuung anderer körperliche Arbeit leisten, be - und entladen, kochen, servieren etc. Die so definierte Arbeiterklasse umfaßt 60 bis 70 Prozent der US-Bevölkerung. Unter „middle class“ verstehe ich wirklich die Klasse der „professionals“, die Intellektuelle oft als „neue Klasse“ bezeichnen, und die Michael Albert in seinen „Venting Spleen„-Kolumnen die „Klasse der Koordinatoren“ nennt. Diese Gruppe umfaßt Journalisten, Professoren, Medienleute etc., die auf der täglichen Ebene zu verantworten haben, was wir in den Medien sehen oder auch nicht sehen, worüber wir lesen, was uns als „Thema“ präsentiert wird. Die so definierte Mittelklasse besteht aus höchstens 20 Prozent der US-Amerikaner. Eine Klasse wird entdeckt
Wenn ich also behaupte, die Arbeiterklasse sei am Verschwinden, so beziehe ich dies nicht etwa auf eine besondere Minderheit, der die Linken - aus theoretischen Gründen - ihre besondere Aufmerksamkeit schenken. Ich meine vielmehr die Mehrheit der Amerikaner. Und die Schuld an deren Verschwinden gebe ich nicht nur den Firmen, die die Medien sponsern und uns zweifellos lieber denken ließen, es gäbe nur Kapitalisten und „Konsumenten“. Ich mache auch viele weniger wohlhabende und weniger mächtige Menschen dafür verantwortlich. Medienleute zum Beispiel. Menschen, die sich von ihrem Lebensstil und ihren Ansprüchen her nicht wesentlich von mir - und vielleicht auch nicht von Ihnen unterscheiden.
Noch nie ist der amerikanischen „working class“ eine ihrer Größe entsprechende Publizität zuteil geworden. Nichtsdestotrotz erfreute sie sich einer kurzen modischen Beliebtheit in den Siebzigern, Folge ihrer „Entdeckung“ durch die Medien im Jahr 1969. Diese Neuentdeckung verlief großenteils parallel zur „Entdeckung“ der Armut sechs Jahre früher: Die Existenz einer Gruppe, die man bis dahin nicht einmal vermutet hatte, wurde mit großem Getöse auf den Titelseiten der Zeitungen enthüllt, woraufhin sie in TV -Sondersendungen beleuchtet und von Akademikern zum begehrten Untersuchungsgegenstand erkoren wurde.
Wie die Entdeckung der Armen wurde auch die der Arbeiterklasse durch die Vorurteile der Entdecker stark verzerrt (aber dazu gleich mehr). Zumindest ein paar Jahre lang erfreute sich die Arbeiterklasse der Aufmerksamkeit Hollywoods (The Deer Hunter, Blue Collar, Saturday Night Fever) und der von Journalisten und Akademikern (die Dutzende von Büchern und Artikel über „Arbeiter in Amerika“ oder „die vernachlässigte Mehrheit“ verfaßten).
In den achtziger Jahren verschwand die Arbeiterklasse dann aus dem Blickfeld. Hollywood verlor das Interesse, und das Fernsehen bietet uns, soweit ich das beurteilen kann, lediglich drei „soaps“, die daran erinnern sollen, daß nicht jede Familie von einem Team aus Arzt und Rechtsanwältin unterhalten wird. Joann Mort von der ACTWU hat in seiner Untersuchung zum Rückgang der Berichterstattung aus dem Arbeitsleben gezeigt, daß die Zeitungen dem Thema Arbeit einerseits zwar mehr Raum geben, es jedoch nur noch auf den Wirtschaftsseiten behandeln.
Im akademischen Bereich zeigt sich der Niedergang der Arbeiterklasse dann noch umfassender. Wie ein Freund mir in einem Gespräch über seine akademischen Kollegen erklärte, ist „die Klasse out“. In ihrem fieberhaften Bemühen, die marxistische Lehre abzuschütteln, ließen viele akademische Intellektuelle „die Klasse“ als relevante Kategorie einfach fallen. „Geschlecht“ ist noch irgendwie interessant, obwohl ich zugeben muß, daß es mir schwerfällt, den ach so gewitzten, sprachverliebten „Diskurs“ der postmodernen Professoren noch zu verfolgen. Das Verschwinden der
Arbeiterklasse
Also ist es für ein Mitglied der „middle class“ heutzutage möglich, Zeitung zu lesen, fernzusehen, sogar zum College zu gehen, ohne auf die Idee zu kommen, daß Amerika nicht nur von Angestellten - und natürlich der unangenehm sich haltenden „schwarzen underclass“ - bevölkert wird. Die Produzenten von Talk-Shows schämen sich nicht, uns bei einer Diskussion über den Mindestlohn oder die Frage der Notwendigkeit einer Krankenversicherung vier „professionals“ mit höherem Einkommen vorzusetzen (zufällig alle weiß, männlich und konservativ). Unnötig zu sagen, daß niemand zu Wort kommt, der ohne Versicherung arbeitet oder wirklich den Mindestlohn bezieht.
Menschen aus der Arbeiterklasse erscheinen fast nur als Zeugen von Verbrechen oder als Besucher von Sportveranstaltungen auf dem Bildschirm; niemals treten sie als Kommentatoren oder „Experten“ auf - nicht einmal, wenn ihr eigenes Leben diskutiert wird.
Der größte Teil der neueren Literatur zeigt sich ähnlich beschränkt. Eine typischer „guter“ Roman neueren Datums untersucht Beziehungen und Träume von Personen, die große Häuser bewohnen und mindestens einen Hausangestellten haben, der all die für die Handlung unwesentlichen Kleinigkeiten des täglichen Lebens für sie erledigt. Laut E.L. Doctorow wird ein Roman, der andere Menschen - arme Leute, Arbeiter in den Mittelpunkt stellt, normalerweise als „politischer“ beschrieben, was auch heißt, daß er nicht in den Rang wahrer Kunst gehoben wird.
Das Verschwinden der Arbeiterklasse reflektiert - und verstärkt - die seit langem bestehende kulturelle Isolation der „professional middle class“. Warum mußte die Arbeiterklasse - oder die Gruppe der Armen - überhaupt entdeckt werden? Von wessen Standpunkt aus war sie bis dahin nicht sichtbar? Mit den klassenpolarisierenden Trends der Achtziger nahm der natürliche Solipsismus der Mittelklasse zu.
Verglichen mit der Zeit vor zehn Jahren ist es unwahrscheinlicher, daß die Klassen im College zusammenkommen (da die finanzielle Unterstützung gekürzt wird), in gemeinsamen Wohnvierteln leben (da die Immobilienpreise grenzenlos in die Höhe zu gehen scheinen) oder daß sie sich auch nur in den Einkaufszentren begegnen werden (da fast der gesamte Einzelhandel inzwischen zweigeteilt ist: es gibt Läden für einkommensstarke und -schwache Kunden). Einzig die Obdachlosen stören die Besinnung der Mittelklasse auf sich selbst und ihre Selbst -Bilder - d.h. die Armen können nur Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn sie vor die Tür gehen und sich - im wahrsten Sinne des Wortes - den Bessergestellten in den Weg legen.
Ohne echten Kontakt oder Kommunikation machen sich vorgefertigte Bilder ungehindert breit; leicht können Vorurteile wirkliches Wissen ersetzen. Das hartnäckigste Stereotyp ist das der Arbeiterklasse (die in der Phantasie gänzlich weiß ist) als Ansammlung von Reaktionären und Eiferern - was zum Beispiel am Gebrauch der abwertenden Bezeichnungen „hard-hat“ (Helm) oder „red-neck“ für Arbeiter deutlich wird. Mittelklasse-Linke sind in keiner Weise gegen dieses Vorurteil gefeit und leiden gleichzeitig sehr stark unter der Befürchtung, von der „working class“ abgelehnt zu werden.
Wahr ist hingegen, daß auf die Liberalität der einzelnen Arbeiter und die ihrer Klasse insgesamt mehr Verlaß ist als auf die der Mittelklasse. Es waren, entgegen den üblichen Vermutungen, mehr „working class„-Zugehörige gegen den Vietnamkrieg. Diese sind auch eher bereit, einen Demokraten ins Präsidentenamt zu wählen (wobei der Unterschied im Wahlverhalten der Klassen normalerweise um einige Prozentpunkte größer ist als der im Wahlverhalten der Geschlechter). Und dank der gründlichen und umfassenden Studien des kanadischen Historikers Richard F. Hamilton wissen wir, daß die weiße Arbeiterklasse (zumindest außerhalb der Südstaaten) nicht rassistischer - in mancher Hinsicht sogar weniger rassistisch - ist als die Klasse der weißen „professionals“. Budweiser, Polyester und TV
Noch tiefer als das Stereotyp des helmtragenden Eiferers sitzt der Mittelklasse-Verdacht, die „working class“ sei tumb, könne sich sprachlich nicht ausdrücken und bliebe in ihrer Geistlosigkeit vorsintflutlichen Werten verhaftet. So muß sie in den Unterhaltungsmedien beispielsweise als Rahmen für machistisches Selbstdarstellungsgehabe (von Saturday Night Fever bis hin zum Kammerspiel Working Girl) oder leichten Schwachsinn (Married, With Children) herhalten.
Mainstream-Soziologen haben dieses Vorurteil zementiert, indem sie immer wieder die „Beschränktheit“ der Arbeiterklasse betonen, wie z.B. im folgenden Zitat aus einem Soziologiebuch für Anfänger von 1976: „Ihre eingeschränkte Bildung, Lesegewohnheiten und Phantasie isolieren die niedere KLasse ..., und dieses Unwissen, in Verbindung mit ihrer gesellschaftlichen Position, läßt sie den „Experten“ und „Weltverbesserern“ der mittleren und oberen Klassen mißtrauen.“
Innerhalb der Linken zeigen sich diese Vorurteile häufig in dem Zögern, Mitglieder der Arbeiterklasse bei Konferenzen und anderen öffentlichen Veranstaltungen auftreten zu lassen. Als beispielsweise einmal jemand vorschlug, einen Bergarbeiter als Redner zu einer Veranstaltung einzuladen, wurde sofort der Einwand laut, daß einige (weiße) Bergarbeiter Rassisten seien. Dies ist zweifellos richtig. Aber ich bezweifle sehr, daß der Vorschlag, sagen wir: einen „Ökonomen“ einzuladen, die durchaus berechtigte Bemerkung nach sich ziehen würde, daß es rassistische Ökonomen gibt.
In ähnlicher Manier wird der Vorschlag, ein schwarzes oder farbiges Mitglied der „under class“ einzuladen, die Frage aufwerfen: „Kann er oder sie denn sprechen?“ Auch diese Frage würden Mittelklasse-Menschen im Falle eines Wirtschaftsexperten nicht stellen. Die Annahme, daß die Arbeiterklasse nicht die Fähigkeit habe, sich zu artikulieren, oder sprachlich benachteiligt sei, ermutigt natürlich nicht zu einer sinnvollen klassenübergreifenden Kommunikation.
Und schließlich existiert da eine Vorurteilsebene, die vom Moralismus der Mittelklasse in Geschmacksfragen herrührt. Alle privilegierten Klassen suchen sich von den weniger Privilegierten durch Kleidung, Essen, Unterhaltung etc. abzugrenzen; und sie neigen dazu, den eigenen Geschmack als von Natur aus intelligenter, besser und ästhetisch höherstehend zu betrachten.
So ist die „working class“ nach Mittellklasse-Meinung süchtig nach Zigaretten, Budweiser, Polyester und Fernsehen. (Zum Teil stimmt das auch, weil Bud billiger ist als „Dos Equis“ und Polyester weniger kostet als Leinen.) Darüber hinaus ist Polyester in den Augen der „middle class“ geschmacklos („tacky“) - ein oft gebrauchtes Codewort für „untere Klasse“. Ein Bewußtsein für Gesundheit sowie eine gewisse Ehrfurcht vor dem „Echten“ in Fragen der Ernährung und der Kleidung reichern die Vorurteile der Mittelklasse mit einem hochgeistigen Unterton moralischer Entrüstung an.
Ich spreche diese Dinge nicht etwa an, weil ich Schuldgefühle wecken wollte oder vorhabe, die Arbeiterklasse als „Subjekt der Revolution“ erneut in den Sattel zu heben. Schuld ist ein häßliches Gefühl, mit dem sich die Linke selbst großen Schaden zugefügt hat. Und was das „Subjekt der Revolution“ betrifft - oder wie Mittelklasse-Intellektuelle mit großen Aufgaben es sonst nennen mögen -, so bin ich der Meinung, die „working class“ hat die Bürde dieser Theorie bereits viel zu lange mit sich herumgetragen.
Aber ich bin entsetzt von dem, was sich mir als Beschränktheit der „professional middle class“ darbietet: Diese Menschen leben in ihren sozialen Strukturen und Enklaven, dazu verdammt, nur die Meinung von Gleichgestellten (oder natürlich die der wirklich Reichen) zu hören, abgeschnitten vom Leben, den Kämpfen und den Gedanken der amerikanischen Mehrheit. Die so eingeschränkte Weltsicht setzt sich auf heimtückische Weise fort: Je weniger „wir“ von „ihnen“ wissen, desto wahrscheinlicher ist es, daß „wir“ an unseren schematisierten Vorstellungen festhalten - oder „sie“ ganz vergessen.
Von diesem Scheuklappendenken werden viele „middle class„ -Linke heimgesucht - manchmal sogar die, die am lautesten von marxistischer Theorie tönen -, aber auch Liberale, Konservative etc. aus der Mittelklasse. Diejenigen, die an dem Übel leiden, werden durch ihre Abgeschirmtheit nicht zu schlechteren Menschen, und auch ihr soziales Engagement oder ihre Rolle bei der Veränderung der Gesellschaft erscheint nicht weniger glaubhaft. Doch diesen Leuten ist etwas genommen. Denn vorläufig zahlt man für die Isolation von der Mehrheit ganz eindeutig einen Preis: Unwissenheit. Aus dem Amerikanische
von Annette Schlichter Aus :'Zeta Magazine‘, 9/8
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