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Sehens- und Bedenkenswertes

■ Zur Retrospektive der Berlinale: „Das Jahr 1945“

Gerhard Midding

Die letztjährige Retrospektive, dem Jahr des Kriegsausbruchs gewidmet, bescherte ihren Besuchern eine Vielzahl von Filmen, in denen schon die Ahnung der Dinge, die da kommen sollten, pulsierte. Die diesjährige Retrospektive, dem Jahr des Kriegsendes gewidmet, beschert ihren Besuchern eine Vielzahl von Filmen, die ihn vor vollendete Tatsachen stellen.

Eine Grundlinie zu finden, unter die sich das Filmjahr 1945 subsumieren ließe, ist unmöglich: zu stark divergieren die aus den Filmen sprechenden nationalen Sichtweisen, Interessen und Traumata; eine Grenzlinie zwischen Sieger und Verliererfilmen läßt sich nicht eindeutig ziehen. Deshalb versteht sich die von der Stiftung Deutsche Kinemathek ausgerichtete Retrospektive als Spurensuche und nicht als Illustration eines festgefaßten Grundgedankens, deshalb verzichtet die begleitende Publikation weitgehend auf allumfassende Essays.

Für zwei Sparten des Programmes wünsche ich mir besonderes Publikumsinteresse. Zum einen für die dokumentarischen Arbeiten, die dem Bedürfnis nach einer authentischen, „objektiven“ Darstellung dieser welthistorischen Nahtstelle (die geprägt war von bis dahin Undarstellbarem) zu entsprechen suchten. Das Gros dieser Filme war dem Propagandaauftrag unterworfen. „The True Glory“ (Garson Kanin/Carol Reed) strebt in der Schilderung der Normandieinvasion danach, die Werte der Demokratie zu verwirklichen, für die in diesem Film gestritten wurde: „This is our people's story - in their own words“.

„Hitler lives“ (aus Wochenschaumaterial montiert von Don Siegel) steht stellvertretend für den Gestus der Unerbittlichkeit, mit dem wartime Hollywood der deutschen Volksseele nachspürte: er verfolgt die von ihr entfachten Feuerbrände zurück bis Bismarck und konterkariert klischeeträchtigste Folkloreszenen („Don't let it fool you, it's still enemy country!“) mit Naziaufmärschen und Bildern von Kriegs- und KZ-Greueln.

Wahre Perlen des Programms sind jedoch die Filme Cartier -Bressons, John Hustons und Humphrey Jennings‘, die sich Zeit nehmen für Momentaufnahmen des Alltäglich-Menschlichen, für Marginalien, die sich in ihrer Beiläufigkeit nicht in den Dienst der Propaganda nehmen ließen. Gerade „Le Retour“ und „The Battle of San Pietro“ rühren unsentimental in ihrer Rhetorik gepeinigter Gesichter, die nach den Verheerungen des Krieges zum ersten Mal wieder das Leben schauen.

Zur gleichen Zeit entstanden in verschiedenen Ländern, nahezu unabhängig voneinander, Filme, die Mischformen zwischen Fiktion und Dokumentation für sich entdeckten: in den USA semidokumentarische Kriminalfilme wie „The House on 92nd Street“, in Frankreich Resistancedramen wie „Bataille du rail“ in Italien schließlich die frühen Meisterwerke des Neorealismus wie z.B. „Roma, Citta, Aperta“. „Il bandito“ (Regie: Alberto Lattuada) verdichtet den moralischen Impetus und den Wirklichkeitssinn des Nachkriegskinos im Schicksal eines Kriegsheimkehrers, aus dessen Perspektive wir die verstörenden Zeitläufe sehen: die Kameraschwenks gehen oft von seinem Gesicht aus, erfassen die ihm altbekannte, nunmehr fremde Szenerie, um schließlich auf seiner Reaktion, seinem Gesicht, wieder zu enden.

Die japanischen Filme aus dem und über das Jahr 1945 sind ein zweiter, glücklich integraler Bestandteil des Programms. Hierzulande weitgehend unbekannte Regisseure wie Tadashi Imai (Der Turm der Lilien), Kazuo Kuraki (Morgen) und Kihachi Okamoto (Der längste Tag Japans) thematisieren in unterschiedlicher Weise die drei Ereignisse, die dem Kaiserreich in diesem Jahr zum Trauma wurden: die Schlacht um Okinawa, die Atombombenabwürfe und die Kapitulation des Tenno.

Kenji Mizoguchi erzählt in „Sieg der Frauen“ mit unendlicher Sympthie vom weiblichen Streben nach Selbstbehauptung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Mit „Das makellose Schwert“ entrückt er ebenso wie Akira Kurosawa mit „Die Männer, die dem Tiger auf den Schwanz traten“ - der Gegenwart in die Allegorie des jidai-geki, des Kostümfilms.

Die Veranstalter der Retrospektive sind nicht verlegen darum, auch einem größeren Publikum eine kinonostalgische Schaulust zu gewähren, sofern dies die thematischen Bezugspunkte rechtfertigen. Das piece de resistance des Okkupationskinos, Preverts, Carnes, Trauners, Barraults und Arlettys farbenprächtiges Leinwandfresko in Schwarzweiß, „Les enfants du paradis“ darf hier ebensowenig fehlen wie Laurence Oliviers „Henry V“. In berückendem Technicolor fotografiert, den britischen Soldaten des zweiten Weltkriegs zugeeignet, gerät Olivier diese Shakespeare-Adaption zu einem furiosen Traktat über Charme und Zweifel eines Demagogen.

Das Programm findet ganz bewußt auch Platz für „unzeitgemäße“ Filme, die jenseits der aktuellen Ereignisse jene Geschichten, Träume und Mythen für das Kino reklamieren, die es seit jeher gegeben hat. Dies ist die Domäne der großen „zeitlosen“ Regisseure Europas: David Lean (Brief Encounter), Robert Bresson (Les Dames du Bois de Boulogne) und Carl Theodor Dreyer (dessen Kammerspielfilm „Zwei Menschen“ vor allem wegen seiner brillanten intimistischen Lichtführung besondere Aufmerksamkeit verdient). Daß Michael Powell und Emeric Pressburger hier fehlen, ist die am wenigsten zu verschmerzende Lücke des Programms.

Das amerikanische Kinojahr 1945 präsentiert die Retrospektive als ungewohnt düster. Der film noir befand sich zwar noch in seiner „Romantischen“ Phase, repräsentiert durch „Mildred Pierce“ und „Fallen Angel“, in der er noch wenig von den letzten Abgründen an Zynismus und Gewalttätigkeit erahnen ließ, die er in den 50er Jahren ausloten sollte. Aber ein Problemfilm wie „The Lost Weekend“ treibt seinen Konflikt schon mit ungeahnt beklemmender Konsequenz voran.

John Ford erwies sich zwar mit „They were expendable“ einmal mehr als rechtmäßiger poet laureate seines Wahlheimatlandes: den Optimismus seiner Landsleute feiert er in ungezählten Großaufnahmen von lächelnden, mutigen Rekruten und die Wehrhaftigkeit der US-Marine zelebriert er in dokumentarisch anmutenden Actionszenen. Die erste Einstellung nach der Verkündigung des Kriegszustandes gewährt er nicht seinen Protagonisten John Wayne und Robert Montgomery, sondern einer verängstigten Japanerin. Ford, ein Konservativer mit liberalen Instinkten.

Ansonsten sind Patriotismus und Siegesgewißheit in den Kriegsfilmen des Jahres nüchterner und gemäßigter geworden: die Truppe wird in „Objective, Burma“ (Regie: Raoul Walsh) mindestens ebensosehr von Pragmatismus wie von Idealen vorangetrieben. Nicht zufällig stammen viele Drehbücher von Kriegsfilmen dieser Phase aus der Feder von Autoren, die sich später einen Ehrenplatz auf McCarthys Schwarzen Listen erworben. So z.B. die Warner-Brothers-Produktion „Hotel Berlin“, die sich bemüht, ein leicht korrigiertes und differenziertes Bild der Deutschen zu entwerfen.

Aus der Filmauswahl und den Texten der von Hans-Helmut Prinzler herausgegebenen Publikationen sprechen Betroffenheit und ein skrupulöses Bestreben, cinephile Vorlieben mit dem zwingenden Ernst des thematischen Hintergrunds zu einen. (Ein mitunter ungemütliches Unterfangen, wenn man feststellen muß, daß Lieblingsregisseure seinerzeit völlig geradlinige, durch keinerlei ironische Brechung nobilitierte Propagandafilme drehten).

Dies gilt in weiten Zügen auch für die Behandlung des zeitgenössischen deutschen Films. Die Texte wecken die Neugier auf Wiederbegegnungen (z.B. mit „Unter den Brücken“) oder Neuentdeckungen (wie z.B. „Die Nacht der Zwölf“) mit Filmen, in die sich das Zeitkolorit in verschiedenster Weise eingeschrieben hat.

Bei der Rehabilitation der als Nazifilmer angeblich stigmatisierten Leni Riefenstahl und Veit Harlan lassen sich die Autoren auf (vielleicht nicht ganz überschaubare) Wagnisse ein. Nicht ohne Mühe lassen sich beide in die vermeintlich wertfreie Sphäre des Melodrams entheben, nicht ohne Mühe lassen sich in ihren Filmen Spuren einer „ästhetischen Opposition“ auffinden.

„Tiefland“ und „Via Mala“ (Regie: Josef von Baky) als Aufrufe zum Tyrannenmord zu interpretieren, mag eine durchaus schlüssige Lesart sein. Die hypnotische, atemberaubende Bildintensität von „Tiefland“, die geradewegs den Bogen zum expressionistischen Stummfilm schlägt, entspricht indessen präzis der Definition, die Enno Patalas vor 25 Jahren wagte: „Der beste Nazifilm wäre wohl der gewesen, in dem gar keine Sprache, sondern nur Musik und Geräusche zu hören gewesen wären.“

Die einschlägigen Texte der Publikation mögen der Diskussion um das zwielichtigste Kapitel deutscher Filmgeschichte zwar dankenswert frische Impulse geben. Die Riefenstahl penetrant-vertraulich als „Leni“ zu titulieren, erscheint mir allerdings als törichter Schulterschluß mit einer Filmemacherin, die es nachgerade nur allzusehr verstanden hat, sich selbst als Opfer des Regimes darzustellen.

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