: Sport, Kunst und Kacke
Enthüllung nach 15 Jahren: Ein Kicker wurde berühmt, weil bei einem Torschuß fast alles in die Hose ging ■ P R E S S - S C H L A G
Dagens Nyheter‘ ist die größte schwedische Nicht -Boulevardzeitung, und der Kulturteil sind die geheiligten Seiten. In einer lockeren Serie Ästhetik im Sport sollen hier neue LeserInnen für die Kultur gewonnen werden; vielleicht aber wird den Kulturwütigen auch nur etwas Zerstreuung gegönnt. Sei's drum, die Sportwelt verdankt der Sportästhetik eine wahrhaft schöne Enthüllung, eineinhalb Jahrzehnte nach...
Rheinstadion Düsseldorf, Sonntag, 30. Juni 1974, fünf Minuten vor acht. Gleich wird das Halbfinalspiel Schweden gegen die Bundesrepublik angepfiffen. Es geht um alles, um die Weltmeisterschaft. Und 70.000 sehen nach 27 Minuten, wie es passiert: Ralf Edström macht das 0:1.
Ein Superding, knapp unter die Latte, ein Tor, das Schwedens Fernsehen tagelang in immer neuer Zeitlupe aus jeder Kameraeinstellung wiederholt. Mehr noch: es wird die nächsten Jahre zur Eingangsvignette seiner Sportnachrichten.
Und doch war es nicht der Schuß allein, der dieses Tor so einzigartig macht: Edström rennt nicht wie besessen in die Fankurve, er wirft sich nicht rücklings auf den Boden, die Huldigung seiner Mitspieler entgegenzunehmen - keine erhobenen Arme, kein Siegesgebrüll, kein Luftsprung, keine geballte Faust, kein Purzelbaum.
Nein, Ralf Edström, gerade hat er das bezauberndste Tor seiner Karriere erzielt, dreht sich langsam um, hebt ganz leicht und unmerklich die Hand, um dann majestätisch vom Tatort zu schreiten. Nur ein mildes Lächeln kann er nicht ganz unterdrücken. Was für eine Geste, was für ein Gentleman!
Die Zuschauer fühlen es, die Rundfunkreporter beschreiben es, die Zeitungskommentare wissen es ganz genau: Da vermochte endlich einer den dramatischen Augenblick des Ereignisses zu begreifen, auf die einzig mögliche Art und Weise mit Würde und tiefem Stolz zubegehen. Ein Künstler, ein Blaublütiger im Proletensport.
Heute wissen wir: Edström konnte nicht anders, weil er mußte. Unser Held hatte Darmgrippe, aber dieses wichtige Spiel wollte er nicht versäumen. Und um die Kontrolle über alle Muskeln im Magen- und Darmbereich nicht zu verlieren galt es, jede schnelle, ruckartige Bewegung zu vermeiden. Beim 1:0 wäre es dann beinahe passiert: „Ich dachte, gleich sind die Hosen voll.“ Und dann? „Ich spannte den ganzen Körper an, traute mich kaum zu bewegen.“
Dies also ist das Geheimnis seines gedämpften Auftretens, seiner sparsamen Motorik, seiner dramatischen Eleganz. Was unseren Kulturteil zu grundlegenden ästhetischen Reflexionen anregt: „Zum einen: Jeder Künstler weiß, wie notwendig es ist, persönliche Erfahrung einzubringen. Es gilt, jeden Augenblick, auch den trivialsten, künstlerisch produktiv zu machen. Aber es ist nicht dieses persönliche, was dem Publikum gezeigt werden darf, sondern das künstlerische Resultat. Und ein zweites: Aus Scheiße wachsen oft die schönsten Blumen.“
PS: Werden wir, mit der Kenntnis von Herrn Edströms sportästhetischem Schicksal, Würdemännern wie Richard v. Weizsäcker und Woytila künftig mit dem gebotenen Ernst begegnen können?
Reinhard Wolff
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