: Von der Quadratur des Quadrats
■ Franz Erhard Walther im Kunstverein in Hamburg
Der Mann hat Ideen, zweifellos. Viele, gute, und das schon seit 35 Jahren. Franz Erhard Walther, seit knapp 20 Jahren Professor an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste, ist ein anerkannter Kunst-Mann. In seiner Lehr-Heimat Hamburg jedoch hat Walther schon lange nicht mehr in größerem Umfang ausgestellt. Erste Idee
Wir schreiben das Jahr 1957. Während Sputnik die Yankees schreckt, tobt wieder einmal die große Debatte, ob Kunst denn nun als gegenständliche Malerei herzustellen sei oder auch anders aussehen dürfe. Während andere wüste Farbkaskaden auf ihre Leinwände spritzen, um sich vom Darstellungszwang zu befreien, zeichnet der junge Franz, achtzehnjährig, ganz akkurat neun gleiche, dünne Rahmen auf sein Aquarellpapier, steckt die Blätter in neun gleiche Rahmen und sagt: „fertig“. Die Spröde des gemalten Bildes zu sich selbst gebracht; Reduktion der Malerei auf das Wesentliche, den heiligen Rahmen, der die Betrachterimagination in Bewegung setzt. Eine frühe Umsetzung des Gedankens, daß ein Kunst-„Werk“ erst durch die Rezeptionsarbeit entsteht. Ein Gedanke, der Walther weiter beschäftigen wird, den er später als seine ureigene Idee des „Werkes“ reklamieren wird. Zweite Idee
Ein weiterer Geistesblitz mit tieferer Bedeutung kostet Walther vier Jahre später seinen Studienplatz an der Frankfurter Städelschule. Sein Professor ist nicht damit zu versöhnen, daß der vorlaute Schüler eine bemalte Nesselwand umdreht und die spärlich durchsabberte Rückseite zum „Werk“ erklärt. Franz Erhard öffnet so dem Zufall Tür und Tor und negiert die Notwendigkeit der künstlerischen Imaginationsleistung - das ist zwar auch nicht neu, aber Anfang der Sechziger offensichtlich noch ziemlich anstößig.
Es folgen weitere Materialexperimente, Versuchsreihen, wie sich durch Falten und Reißen, durch Stapeln und Reihen, durch Tränken und Verkleben Veränderungsprozesse beispielsweise in Papckpaier auslösen und steuern lassen. Eine der Veränderungen ist banal: Durch die Schichtung wird das Packpapier dicker, verwandelt sich von der reinen Fläche in ein plastisches, dreidimensionales Gebilde, das zum Anfassen reizt. Dritte Idee
Die tastbare Qualität des Plastischen, das drängt zu anderen Materialien, und Walther geht über zu Textilien, die er zunächst verklebt und später, als die Stabilität seiner Klebungen nicht mehr für seine Zwecke reicht, vernäht. Er näht Kissenformen, Kästen, fängt wieder an, gezielt mit der Farbigkeit der verwendeten Stoffe umzugehen. All das ist zum Anfassen gedacht, dazu, daß man seine Arbeiten nimmt und etwas mit ihnen anstellt. Gleichzeitig zieht es ihn mitsamt seinen Kissen und Kästen nach draußen, in die Landschaft, wo sie sich plötzlich in einem ganz neuen Wahrnehmungsrahmen finden.
In dieser Zeit, Mitte bis Ende der Sechziger, formuliert Walther die Theorie zu diesen Arbeiten des ersten Werksatzes, das, was er seinen „anderen Werkbegriff“ nennt (nicht zu verwechseln mit Beuys‘ „erweitertem Kunstbegriff“). „Die Grundfigur ist sehr einfach“, sagt Walther heute, „Kunst, die Werkfigur, ist nicht dadrin“, er zeigt auf seine Arbeiten, „das muß der Betrachter hineinprojizieren.“ Walthers Arbeiten sind Angebote, sie durch Betrachtung erst zu vollenden. Vierte Idee
Faktisch ist das heute nicht mehr so einfach. Der gesammelte erste Werksatz und auch die Standstücke und Schreitbahnen des zweiten liegen nur noch in der „Lagerform“ vor, die, so Walther, als Werkform genauso legitim sei wie die aufgebaute. Das Werk werde dadurch zu einer „reinen Vorstellungsfigur“, was soviel bedeutet wie: Der Betrachter imaginiere angesichts der raumsparend hintereinanderstehenden Platten ihre aufgebaute Form, um dann in eine Beziehung zu den imaginierten Objekten zu treten. Der „Werkbegriff“ wird so ziemlich wirr, fast könnte man vermuten, beliebig. Fünfte Idee
Um die Quadratur des Kreises geht es. Darum, aus dieser Beliebigkeit herauszutreten, die ein Werkbegriff schafft, der nur vom Betracher ausgeht; darum, sich selbst noch als Künstler definieren zu wollen, auch wenn die Kunst erst durch die Handlung des Rezipienten hergestellt wird. Mit den Wandformationen der achtziger Jahre versucht dies Walther. Übermenschengroße Kompositionen aus sattfarbigen textilen Rück- und Seitenwänden, deren Arrangement von Zwischen -Wänden und/oder -Decken Proportionen folgt, die von denen des menschlichen Körpers abgeleitet sind. Arrangements im Geist der Akkuratesse des rechten Winkels, im Spannungsverhältnis zwischen der holzverstärkten Rigidität und der einfachen Lappigkeit von Stoffen. Tritt man weit genug zurück, dann erscheinen die Ensembles aus Säulen, Standstellen und hochgeklappten Sockeln konventionell als Tafelbilder, weil die Draufsicht die Tiefendimension schluckt. Um jedoch die eigentliche Bestimmung seiner Konstruktionen im Grenzbereich zwischen Plastik und plastischem Bild anzudeuten, stellt sich Walther auf Katalogfotos gerne in die Wandformationen hinein. Die sind begehbar, sind erst im Begehen komplett. In der Draufsicht zeigt sich also nur ein Fragment des Werks, das erst durch den eigenen Körper des Betrachters wird, der es drinnen stehend wieder nur in Fragmenten sehen kann. So weit, so gut.
Weil sie aber wiederum auch über „skulpturalen Eigenwert“ verfügen sollen, weil die reine farbliche Gestaltung der Wandformationen auch den Zweck hat, die Reserviertheit vor den unverstandenen Stücken zu mindern und ihnen einen bildhaften Sinn einzuverleiben, darf man das Betreten allerdings nicht verwirklichen. Einsteigen in die Formationen soll man, aber um Himmels Willen nicht tatsächlich immer schön brav im Geist, rein antizipativ. Sonst werden sie ja dreckig, die Eigentlich-ja-doch -Kunstwerke, und „etwas Sorgfalt muß ich erwarten können“. So hebt Walther seinen „anderen“ Begriff des Kunstwerks, das sich erst im Handeln der Rezipienten immer wieder neu realisieren muß, in die himmlischen Sphären der unantastbaren Kunst, wo er sich in einer muffig-musealen Wolke zerstäubt. So wird aus dem schönen Quadrat eben doch wieder nur ein Kreis.
Dialoge, die Werkschau, die der Hamburger Kunstverein organisiert hat, ist die größte Walther-Ausstellung, die Hamburg je sah. In sechs „Werkgruppen“ aus den Jahren 1957 bis 1987 zeichnet sie die Entwicklung Walthers nach von den frühen Rahmenzeichnungen und Materialexperimenten über die Objekte des ersten und die „Standstücke“ und „Schreitbahnen“ des zweiten „Werksatzes“ bis zu seinen heutigen „Wandformationen“. Eine umfangreiche Gruppe mit „Werkzeichnungen“ aus den Jahren 1964 bis 1973 soll ein anschauliches und erhellendes Gegengewicht bilden zu den sperrigen Arbeiten, die Walther ansonsten ausgetellt hat.
step henzz
Kunstverein Hamburg, bis zum 18. März. Ein Buch zur Ausstellung ist in Vorbereitung (Ritter Verlag, Klagenfurt)
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