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Nicht nur Litauen steigt aus

An der Schwelle zur Unabhängigkeit stehen nach Litauen auch Estland, Lettland, Georgien und Aserbaidschan. Armenien wird sich nicht lumpen lassen, obwohl unsicher ist, ob es den kaukasischen Krieg gewinnen kann. Beschleunigen werden sich sicherlich die Entwicklungen in Usbekistan. Die anderen mittelasiatischen Republiken brauchen noch etwas Zeit. Moldawien wird irgendwann den Anschluß an Rumänien suchen. Sicher ist gegenwärtig noch Belorußland mit seiner konservativen Parteiführung. In der Ukraine sind vor allem die westlichen Landesteile vom nationalen Fieber ergriffen. Die Bevölkerung des industrialisierten Ostens ist zwar rebellisch, aber überwiegend russisch.

Litauen ist nur die erste Sowjetrepublik, die den Weg von Forderungen nach Demokratisierung und wirtschaftlicher Autonomie zur Unabhängigkeit und zur Abschaffung des Sozialismus vollständig durchlaufen hat. Sieht man von einigen regionalen Besonderheiten ab, vollzieht sich die Entwicklung überall nach ähnlichem Muster: Nachdem sich das erste Erstaunen über die Liberalisierung in Selbstvertrauen verwandelt hat, wachsen Kühnheit und Radikalität.

Es sind zunächst vor allem Schriftsteller, Journalisten und Historiker, die zu Wortführern der Bewegungen werden. Sie melden in der Sprachenfrage und in der Demokratisierung Ansprüche an, die sich innerhalb des gesamtsowjetischen Reformprozesses bewegen. Gerade weil sie anfänglich mit einem konservativen politischen Establishment konfrontiert sind, das zu hilflosen Repressionen oder halben Kompromissen greift, sind sie wichtig. Daneben entstehen informelle Gruppen, die sich mit der ökologischen Situation und der Aufarbeitung der Geschichte beschäftigen. Die Volksfronten sind zunächst Bündnisse der demokratischen, liberalen, auf ökologischen Umbau und wirtschaftliche Autonomie orientierte Strömungen.

Einer neuen reformorientierten Partei- und Staatsführung gegenüber muß eine Volksfront jedoch Distanz halten. Sobald Mäßigung und Kompromißbereitschaft Merkmale der politischen Spitze sind, lassen sie sich als taktische Rückzugsgefechte interpretieren. Nur so läßt sich die erreichte Mobilisierung der Bevölkerung aufrechterhalten, und diese Mobilisierung muß erhalten bleiben, um überhaupt Veränderungen durchzusetzen. Gleichzeitig geraten die Volksfronten selbst unter Druck. Denn es gewinnen nun Tendenzen an Einfluß, die den die Volksfronten bisher bestimmenden Kräften den Schneid abkaufen könnten. Das sind zunächst die Jüngeren, die die schon Etablierten mit dem moralischen Rigorismus der Nachgeborenen angreifen können. Das sind ferner ehemalige Dissidenten, die ihre religiöse oder nationale Unbeugsamkeit in der Verbannung, dem Lager oder den psychiatrischen Anstalten unter Beweis gestellt haben. In Litauen kam als zusätzlicher Faktor die katholische Kirche hinzu, die seit 1988, als sie in die neue Toleranz einbezogen wurde, alles auf eine Karte setzte.

Die Forderung nach einer Aufarbeitung der stalinistischen und nachstalinistischen Geschichte enthüllt nun, daß keine Republik der Sowjetunion freiwillig beigetreten war. Sei es Eroberung in den frühen zwanziger Jahren, sei es Annexion aufgrund des Stalin-Hitler-Paktes: Immer handelte es sich um einen gewaltsamen Anschluß. Das seit Stalin offizielle Dogma einer „Annäherung“ der Nationen, die in einer „Verschmelzung“ enden sollte, war stets ein Euphemismus für „Russifizierung“. Russische Schulen wurden auf Kosten der nationalen gefördert. Das noch unter Breschnew mit Polizeigewalt aufrechterhaltene Dogma, daß die russische Kultur Lichtbringer für alle anderen gewesen sei, war schlicht beleidigend. Daß die Beleidigten zurückspucken, sobald sie sich trauen, ist verständlich.

Die Gegenforderungen ergeben sich von selbst: Anstelle des Russischen soll die eigene Nationalsprache obligatorisch zum Medium der Wirtschaft, der öffentlichen Verlautbarungen und des Unterrichtswesens werden. Sie soll jenen Status erhalten, den das Italienische in Italien hat. Wer dauerhaft im Lande lebt und dort politische Rechte beansprucht, hat die Sprache des Landes zu beherrschen.

Die euphorisierenden Wirkungen des Erfolgs beschleunigen in der Bevölkerung die Radikalisierung. Dabei verändert sich die politische Botschaft. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der Moskauer Zentrale und des Russischen erscheinen nun als Dominanz der Russen. Nun artikuliert sich der Konflikt vor allem entlang ethnischer Zugehörigkeit. Das wirkt sich in verschiedenen Regionen unterschiedlich aus: In den moslemischen Republiken sind die bislang bevorzugten Europäer bzw. die Christen insgesamt potentielle Opfer des Volkszorns. Zwischen Armeniern, Russen oder Litauern gibt es da keinen prinzipiellen Unterschied. In den baltischen Ländern wird eine kulturelle Distanz zu den „asiatischen Barbaren“ markiert. Man selbst legt sich das Adelsprädikat „Mitteleuropa“ zu, auch wenn es ein „östliches“ ist.

Die Führungen der Volksfronten machen diese Primitivierung der Auseinandersetzung in der Regel nicht mit. Aber sie müssen mit ihr rechnen. Denn die massenhafte Euphorie verleiht den Bewegungen ihre Kraft, radikalisiert sie und erzwingt schließlich das Vabanque-Spiel, das in Litauen nun gewonnen wurde.

Erhard Stölting

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