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Schlußlicht Berlin

Die Strukturanpassung im öffentlichen Bereich ist voller Unklarheiten und Risiken  ■ D E B A T T E

Wenn ein Westberliner Politiker bisher die die Wieder -Verknüpfung von West- und Ost-Berlin, von Berlin und seinem Umland gedacht hat, hat er zunächst bei westdeutschen Vorbildern Maß genommen. Das Stadtstaatenmodell war darum schnell in Verruf gebracht und viel attraktiver erschien die Einheit von Metropole und Flächenstaat - das Land Berlin -Brandenburg. Nur so glaubt man, die Zersiedlung der Landschaft und eine aggressive Ansiedlungskonkurrenz zwischen Kernstadt und Umland steuern zu können.

Betrachtet man das Berliner Verbindungsproblem genauer, so stellt sich - eben im Unterschied zu Hamburg und Frankfurt heraus, daß hier Gebietskörperschaften mit ganz unterschiedlichen Wirtschafts-, Lebens-, Verwaltungs- und Versorgungsstandards und - was aktuell das Bedeutendste sein dürfte - mit zwei ganz unterschiedlichen Finanzsystemen und Budgetgrößenordnungen gegenüberstehen. Dabei geht es nicht allein um Rechtsangleichung - Einführung der Finanzgesetze der Bundesrepublik -, sondern eben um sehr ungleiche Produktivitäts- und Einkommensniveaus, die sich auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte ausdrücken.

Würden die Haushalte von West-Berlin, Ost-Berlin und Brandenburger Landkreisen zukünftig zusammengeworfen und nach Einwohnerschlüsseln gleichmäßig verteilt, stünden für West-Berlin plötzlich nur sehr viel geringere Mittelansätze zur Verfügung, weil durch die Mehreinnahmen der hiesigen Seite die enormen Rückstände in der DDR mitfinanziert werden müßten. Offensichtlich weiß zur Zeit keiner genau, zu welchem Ergebnis ein gemeinsamer Kassensturz kommen würde.

Daß die östliche Seite plötzlich völlig neue Ressourcen entdeckt, ist nicht zu erwarten, besonders nicht, wenn sie das Bundessteuersystem übernimmt. Hier müssen das geringe Einkommensniveau und die negativen Unternehmensbilanzen in der DDR für allseits nur mager gefüllte öffentliche Kassen sorgen. Daß innerhalb der DDR noch einmal zugunsten Berlins umverteilt wird, wird ebenfalls nicht geschehen. Dafür hat die einseitige Bevorteilung der vergangenen Jahrzehnte zuviel Zorn, vor allem unter Sachsen und Thüringern aufgestaut. Vermutlich wird es in Ost-Berlin ein grausiges Erwachen geben, wenn plötzlich alle Privilegien bei einer gleichen Steuerverteilung entfallen. Daß dann der Bund einspringt, ist unwahrscheinlich. Das Finanzministerium in Bonn hat bereits mehrmals erklärt, daß es die Berlinförderung zügig abbauen will, doch wohl nicht, um diese Mittel für einen Finanzausgleich Richtung DDR mehrfach aufzustocken.

Man darf tatsächlich gespannt sein, wann die ersten Zahlen zu den öffentlichen Haushalten in der DDR veröffentlicht werden. Auf jeden Fall wird dann die Skeptikerversion konkreter, daß der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik und die Einverleibung West-Berlins in die DDR nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind.

Diese Überforderungen sind ein notwendiges Kind der schnellen Anschluß-Strategie und das Wahlergebnis vom 18. März hat diesem Weg alle Türen geöffnet. Offensichtlich weiß aber auch die Bundesregierung noch nicht genau, welches öffentliche Haushaltsvolumen in dem Land, das noch nicht einmal über Finanzämter in unserem Sinn verfügt, für 1990 und 1991 erforderlich sein wird, und woher diese Mittel kommen sollen. Gleiches gilt für den Finanzmittelbedarf der Währungsunion und für die Kriterien, nach denen die Westwährung am Tage X Betrieben und Kommunen zur Verfügung steht.

Es ist schon erstaunlich, auf welchem vagen Niveau der Prozeß der Vereinigung diskutiert wird, und wie glatt und konfliktfrei die Fragen abgeblendet werden, die gegenwärtig nicht in das Bild der überall geübten Muskelspielerei passen. Es ist auch erstaunlich, wie gelassen die Öffentlichkeit auf dieses Gewurstel reagiert, so als würde sich das alles von selbst korrigieren. Wenn man vergleicht, welche Rationalitätsansprüche die Wirtschafts- und Finanzpolitik der späten sechziger und siebziger Jahre gestellt haben, dann erscheint das Niveau der Entscheidungsvorbereitung heute wie ein Rückfall in den Mystizismus des Mittelalters.

Was passiert denn, wenn alle diese Fragen nicht oder zu spät gelöst werden? Wenn es plötzlich eine Rechts-, Wirtschafts- und Währungsunion gibt, ohne daß die krassen Unterschiede in den öffentlichen Kassen von Ost und West erfolgreich ausgeglichen sind? Keiner kann gegenwärtig die dann entstehenden Wirkungsketten vollständig simulieren, nur soviel scheint klar: Alles, was man bisher nicht gewollt hat und was man von Anfang an planmäßig verhindern wollte, muß dann erst recht entstehen. Berlin wird zum Abenteuerspielplatz dieser Ungereimtheiten.

Im Klartext: Wenn man bisher nicht wollte, daß Berlin und sein Umland in eine chaotische Wachstums- und Siedlungsphase hineingeraten, daß jede Kommune sich willfährig allen Investorenwünschen und -tricks öffnet, daß nicht nur um Arbeitsplätze und Einkaufszentren konkurriert wird, sondern sehr bald auch um Wohnbevölkerungsanteile und Dienstleistungsstandorte, dann wächst diese Gefahr in dem Maße, in dem Gemeinden weitgehend mittellos sind und nur durch Ansiedlungsoffensiven an die begehrte D-Mark kommen können.

Die hier beschriebene Entwicklung gilt als erstes natürlich für das Verhältnis zwischen eng gewordenen Kernstädten und den Umlandgemeinden mit ihren zunächst unerschöpflich erscheinenden Flächenreserven. Der Logik nach muß diese Konkurrenz sehr bald aber auch zwischen den beiden Stadthälften auftreten, weil auch hier neue Einwohner und Arbeitsplätze entscheidend sind für die kommende Haushaltsentwicklung.

Wie unter diesen Voraussetzungen innerhalb von zwei oder drei Jahren eine gemeinsame Stadt- und Landesregierung entstehen soll, ist schwer vorstellbar. Mit Sicherheit wird man die Hauptstadt- und Olympiafrage mit diesen Disparitäten verbinden und sie zu unverzichtbaren Stabilisatoren für eine Integration erklären.

Die Alternative zu diesen neuen Verkrampftheiten ist mit Sicherheit nicht die Flucht zurück in neue Zweistaatenmodelle oder ein Festhalten an alliierten Sonderrechten, sondern zuallererst einmal die Herstellung von radikaler Transparenz und Öffentlichkeit in allen Fragen, die den Vereinigungsprozeß betreffen. Auf diesem Gebiet haben bisher nicht nur Bundesregierung und Bundesparteien versagt, sondern auch das administrative Modell des Regionalausschusses hat eine nichtinformierte und ratlose Öffentlichkeit geschaffen. Dabei hat Berlin in der Vergangenheit immer mit seinem soliden Fundament wissenschaftlicher Institutionen geworben, ein Kapital, das zur Zeit ganz offensichtlich niemand zu nutzen versteht.

Das zweite, was es zu leisten gilt, ist ein eigenes Integrationsmodell, das einen räumlich ausgreifenden Verfassungsansatz mit einem realistischen Stufenplan verbindet und sich mit beiden von allen Bonner Aufgeregtheiten abkoppelt. Mit Sicherheit ist es nicht richtig, sich jetzt auf die kleinste räumliche Einheit zurückzuziehen, sondern es müssen sehr nüchterne Entwicklungsschwellen definiert werden, die überschritten sein müssen, bevor die nächste Verbundstufe verwirklicht werden kann. Wie auf einem solchen Weg kooperative Loyalitäten und situative Konkurrenzen ausgeglichen werden, das ist der Maßstab, an dem eine zukünfte Berliner Regionalpolitik sich messen lassen muß.

West-Berlin wird darum über eine weitere Frage noch einmal allein und ganz von vorn nachdenken müssen: Mit welchen Sonderzuwendungen sie die Entwicklung in ihrer anderen Stadthälfte und ihrem Umland finanziell stützen will. Weil: Es kann nicht im Interesse West-Berlins liegen, daß sich der Schwellenabbau in die Länge zieht, weil dies die existenziellen Konkurrenzen verfestigt und im Prinzp auf das Kleinstaaten-Modell hinausläuft. Berlin muß also selbst in das Zusammenwachsen investieren, es muß das tun, was die Bundesregierung bisher versäumt, es muß einen klar bemessenen Entwicklungsfonds schaffen, mit dem der Infrastrukturausbau, soziale Stützungsprogramme und ein administrativer Mindeststandard gefördert werden können. Wie groß ein solcher Fonds sein muß und aus welchen verschiedenen Quellen er finanziert werden kann, das ist die Frage, mit der sich die Parteien des Abgeordnetenhauses in den nächsten Wochen beschäftigen sollten.

Sie alle haben die einheitliche Regierung in und um Berlin, die gemeinsame Wahl, vollmundig beschworen. Nur: Zum Nulltarif - wie man heute sagt - wird sie nicht zu haben sein.

Wulf Eichstädt

Der Autor arbeitete früher am Deutschen Institut für Urbanistik und bei der Altbau-IBA; heute ist er freier Stadtplaner und Architekt in Berlin.

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