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Zustände im Irrenhaus

Auf den Philippinen leben die psychisch Kranken hinter Gittern / Oft werden sie von den Verwandten abgeschoben / Es fehlt an Geld und Fachkräften  ■  Aus Manila Margot Cohen

15 Jahre seines Lebens verbrachte Frederick Beucler vorwiegend in finsteren, verriegelten Zellen. Er war in den Irrenanstalten von Manila und Bataan eingesperrt; und in all den Jahren sah er kaum einen Besucher. Der 38jährige Mischling, Sohn eines Universitätsprofessors und der Angestellten einer Fluglinie, hatte die besten Schulen besucht und später eine Firma geleitet, in der kunsthandwerkliche Produkte hergestellt wurden. Doch dann starben plötzlich beide Eltern; und als er 24 war, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er hätte sich den Aufenthalt in einer Privatklinik leisten können - aber die Verwandten steckten ihn in eine staatliche Irrenanstalt.

Als ich letztes Jahr mit Beucler sprach, im Hof des Mariveles-Krankenhauses, der Irrenanstalt von Bataan, sah er abgemagert aus. „Wir haben nichts mehr zu erwarten“, sagte er, „unser Leben vergeht in der Anstalt. Manche bleiben bis zu ihrem Tode hier, weil ihre Familie nichts mehr von ihnen wissen will. Wer von der Familie nicht aufgenommen wird, kann nicht entlassen werden.“

Beucler wurde im November letzten Jahres entlassen - einer von rund 17.000 Patienten, die seit 1986 im Rahmen eines Programmes der Regierung Aquino die Anstalten verlassen durften. Ziel dieser Maßnahmen war es, die Fürsorge für die Kranken in den privaten Bereich zu verlagern und auf diese Weise die elenden Zustände in den sechs psychiatrischen Krankenhäusern des Inselstaates zu verbessern. Beuclers Entlassung ist ein typisches Beispiel für die Psychiatriepolitik auf den Philippinen - eine lange Geschichte von gutgemeinten Initiativen der Regierung, die nicht funktionieren konnten, weil es an Geld und Personal in den Krankenhäusern fehlt und weil die sozialen Vorurteile nicht zu überwinden sind. Viele der entlassenen Patienten fanden bei ihren Verwandten keine Aufnahme und wurden bald wieder in die Anstalten eingewiesen. Die Zustände dort haben sich kaum verbessert.

Ich habe vor kurzem fünf staatliche Anstalten für Geisteskranke besucht. Überall das gleiche Bild: Die Patienten leben in vergitterten überfüllten Zellen; viele schlafen nackt auf dem schmutzigen Zementboden. Die medizinische Versorgung besteht vorwiegend aus Elektroschock -Behandlung und der Verabreichung von Psychopharmaka.

In der Regierung von Corazon Aquino wurde der Neurologe Alfredo Bengzon Gesundheitsminister - er beschloß 1986 die längst überfälligen Reformmaßnahmen in den staatlichen Einrichtungen zur Versorgung der psychisch Kranken. Dr. Baltazar Reyes, Leiter der von Bengzon eingerichteten „Projektgruppe Psychiatrie“, erinnert sich an die früheren Zustände: „In der Anstalt Davao zum Beispiel waren alle Insassen nackt - und zwei Drittel hatten Tuberkulose.“ Auch um die Ernährung stand es schlecht. Ein Mitarbeiter einer psychiatrischen Anstalt erzählt: „Früher haben sich die Patienten um jede Bananenschale geprügelt, die man in die Zelle geworfen hat.“

Solche Vernachlässigung der Kranken ist in den meisten asiatischen Ländern zu beobachten. Wo Geisteskrankheit als eine Schande begriffen wird, entsteht für die Regierungen kein dringender Handlungsbedarf. Und die Finanzmittel für das staatliche Gesundheitswesen sind meist knapp bemessen. „Wie soll man sich für die Verbesserung der Lage von Geisteskranken einsetzen“, sagt Dr. Robert Fisher, ein amerikanischer Berater, „wenn schon der einfachste Gesundheitsdienst nicht funktioniert.“

Die Weltgesundheitsorganisation hat im Dezember 1989 eine vergleichende Untersuchung der Gesundheitsversorgung im pazifischen Raum veröffentlicht. Dort wird festgestellt: „Es gibt keine organisierte Versorgung der Geisteskranken. Häufig werden die Patienten gegen ihren Willen und ohne rechtliche Grundlage in die Anstalten verbracht. In den psychiatrischen Kliniken fehlt es an ausgebildetem Personal

-diese Situation spitzt sich vor allem in den Ländern zu, die ohnehin an der massenhaften Abwanderung von Fachkräften leiden.“

Für die Philippinen gilt dies in besonderem Maße. Rund 2.000 Philippinos arbeiten inzwischen als Psychiater in den Vereinigten Staaten - in ihrem Heimatland bleiben nur 220 Fachkollegen, die sich um die ganze Misere zu kümmern haben. Es kommt hinzu, daß 60 Prozent dieser Ärzte ihre Praxis in Manila haben. Auf dem Land gibt es für Geisteskranke kaum eine Chance, ärztlich betreut zu werden. Dr. Baltazar Reyes meint: „In der Provinz sitzen die psychisch Kranken zumeist im Gefängnis.“

Die philippinische Bevölkerung hat wenig Vertrauen zu Psychologen und Psychiatern - man verläßt sich eher auf die Hilfe von Angehörigen aus der Großfamilie, oder man wendet sich an Priester und Wunderheiler, die für Teufelsaustreibung und Kräutertränke zuständig sind. Wenn das alles nicht hilft, beschließen die Angehörigen manchmal, die Kranken zu verstecken. Dr. Benjamin Molina, einer der Ärzte im psychiatrischen Krankenhaus von Davao, kennt das Problem: „Manchmal werden hier Patienten eingeliefert, die drei Jahre oder auch acht Jahre in einem Zimmer eingesperrt waren.“

Die „Projektgruppe Psychiatrie“ stand also vor der Aufgabe, eine Reformstrategie im Bereich der Versorgung psychisch Kranker zu entwickeln. Vor allem galt es, jenen Teufelskreis zu durchbrechen, der bewirkte, daß die Familien sich von ihren psychisch kranken Mitgliedern abwandten. 1987 wurde der „Krisennotdienst“ ACIS (Acute Crisis Intervention Service) eingerichtet: Um einen Kranken einliefern zu können, müssen die Verwandten zunächst 72 Stunden mit dem Patienten in der Notaufnahme verbringen. Nach diesen 72 Stunden wird der Patient dann entweder entlassen, oder für zwei Wochen zur Beobachtung behalten.

Das ACIS-Konzept hat bewirkt, daß die Zahl der Kranken zurückgegangen ist, die auf Dauer in den Kliniken bleiben: Nach Aussage von Dr. Reyes sind es jetzt statt 15 Prozent nur noch sechs bis sieben Prozent der eingelieferten Fälle.

Zum anderen wollte die Projektgruppe mit ihren Reformmaßnahmen erreichen, daß Patienten nach Hause entlassen werden können. Doch die Vorurteile gegen die Geisteskranken erwiesen sich immer wieder als Hindernis. Trotzdem ist die Erfolgsbilanz eindrucksvoll: Die Zahl der Patienten im staatlichen Zentrum für Psychiatrie in Manila konnte von 7.000 auf 2.789 verringert werden (das Krankenhaus war allerdings nur für 2.500 Patienten gebaut worden).

Etwa tausend Menschen leben zur Zeit in den staatlichen Anstalten - durch diese Verringerung der Patientenzahl konnten die Krankenhäuser mehr Fachkräfte einstellen, die Versorgung der Patienten mit Psychopharmaka und anderen Medikamenten verbessern und ihre technischen Einrichtungen besser nutzen. Auch die Zusammenarbeit mit den Familien funktioniert nun besser.

Dennoch ist das Experiment, die Kranken nach Hause zu entlassen, nicht geglückt - darin sind sich die Psychiater und Anstaltsleiter einig. Die Familien haben die Entlassenen nicht aufgenommen. In der Anstalt Trece Martires, in Cavite, könnte ein Drittel der 294 Patienten entlassen werden - doch die Verwandten wollen sie nicht haben. Dr. Rolando Erfe klagt: „Manchmal bringen die Angehörigen sogar einen Politiker dazu, uns einen Brief zu schreiben, in dem es heißt: 'Entlassen Sie diesen Patienten nicht.‘ Was sollen wir da machen?“ Oft werden die entlassenen Patienten schon nach wenigen Wochen wieder eingeliefert. Die Insassen können dieses sinnlose Eingesperrtsein nicht ertragen: Aus dem Cavite-Krankenhaus brechen immer wieder Patienten aus - etwa fünf pro Monat.

Isabelo Banez, der Leiter des Staatlichen Psychiatrie -Zentrums in Manila meint: „Wir haben sehr schlechte Erfahrungen machen müssen. Wenn wir Leute entlassen, treiben sie sich nur auf den Straßen herum, sie sind eine Gefahr für sich und andere.“

Viele Psychiater sehen jedoch die einzige Lösung darin, die Fürsorge für die psychisch Kranken aus den Anstalten in den familiären Berich zu verlagern. In den psychiatrischen Einrichtungen der Philippinen absolvieren kaum zwanzig Hochschulabsolventen pro Jahr eine Berufsausbildung. Auf diese Weise kann der Bedarf an Psychiatern nicht gedeckt werden. Das Nationale Zentrum für Psychiatrie hat daher in den letzten Jahren 600 praktische Ärzte aus ländlichen Gegenden in Kursen für den Umgang mit psychisch Kranken geschult. Zur Zeit läuft ein ähnliches Programm für Krankenschwestern an. Und es gibt Versuche, den Mitarbeitern kommunaler Gesundheitsdienste beizubringen, wie man helfen kann, wenn es in einer Familie einen Fall von psychischer Erkrankung gibt.

(Aus: 'Far Eastern Economic Review‘, Februar 1990; Übersetzung: Edgar Peinelt).

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