: Ende eines Deutschen Gefängnisses
■ Eine deutsche Premiere: Stasi-U-Haftanstalt Potsdam umfunktioniert zum Kommunikationszentrum
I. Mitten auf der Kreuzung Otto-Nuschke- /Gutenbergstraße in der Potsdamer Altstadt klafft ein tiefes Loch im Straßenbelag: ortskundige Trabantfahrer umkurven die tückische Falle, während neugierige Mercedeslenker aus dem Westen krachend hindurchpreschen - die Federn quietschen, das Bodenblech schabt an den Rändern, und die Lebensdauer des Auspuffs verringert sich abrupt um die Hälfte. Jahrelang wurde hier nichts mehr ausgebessert, und das hatte seinen Grund ausnahmsweise nicht in der ökonomischen Misere, sondern lag an der ungastlichen Nachbarschaft. Dreißig Meter weiter, im Sackgassenteil der Otto-Nuschke-Straße, hatte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR eines seiner berüchtigten „Objekte“, und die Stasi hielt bekanntlich nur wenig von unaufgefordertem Zuspruch: Zufahrt nur für Anlieger mit Sondergenehmigung.
Die kontrollierte allerdings keiner mehr, als sich Ende Dezember letzten Jahres, im Anschluß an den Berliner Aufruf zur Stasikontrolle und die daraufhin erfolgte Übernahme der Potsdamer Stasizentrale in der Hegelallee, eine Handvoll Mitglieder des örtlichen Bürgerkomitees Einlaß in das „Objekt“ verschaffte. Die Verblüffung der Neugierigen hätte nicht größer sein können. Was sie hinter den barocken Fassaden vorfanden, war eine perfekt abgesicherte, schwer bewehrte und in ihrer Weitläufigkeit auf den ersten Blick unüberschaubare Knastanlage: die Untersuchungshaftanstalt der Stasi Potsdam.
II. Auch ich brauchte einen halben Tag, bis ich die Zusammenhänge der rundlaufenden Gänge, der Treppen, Tunnel und Zellentrakte überschaute. Wohin führen die Treppen? Wo sind die Ausgänge? Was verbirgt sich hinter der nächsten Ecke? Wie kommt man auf den Hof? Vorbei an den offenen Zellen mit den hochgeklappten Betten, den Kloschüsseln und den vergitterten Fensterchen, gerate ich in den Zahnarztraum, der so anheimelnd wirkt wie ein Schloßverlies: ein mächtiger Bohrer ragt an einem meterlangen Stahlarm aus dem Boden, hinter dem Schreibtisch in der Ecke ein einzelner Stuhl, sonst nichts. Der Geruch von Reinigungsmitteln und Farbe liegt in der Luft, alles ist peinlich sauber und wirkt tatsächlich frisch gestrichen. (Später wird mir ein Mitarbeiter der Denkmalpflege erzählen, daß die Stasi offensichtlich die gesamte Anlage, bevor sie aufgelassen wurde, im Eilverfahren gestrichen hat; man hat noch frische Farbe und Malerkleidung gefunden.)
Ich suche den Hofzugang und lande im Bügelraum stapelweise fein säuberlich gefaltete Schlafanzüge, Unterwäsche, Drillichanzüge mit orangeroten Aufnähern, Kisten voller schwarzer Plastikturnschuhe, Mützen, Gummibänder, Handschuhe. Beim nächsten Versuch gerate ich in den Photoraum. Hier wurden die Neuzugänge zum Ab
lichten auf einer archaischen Vorrichtung festgeschnallt, einem fünf Meter langen, am Boden entlanglaufenden Holzbrett, an dessen Ende ein Stuhl befestigt ist, der sich per Seilvorrichtung und Weichenhebel für die gewünschte Porträtposition in alle Richtungen drehen ließ. Zack! Rechtes Profil. Zack! Linkes Profil! Zack! Frontansicht! Zack! - wer weiß, wofür man's brauchen kann - Rückansicht. In diesem langen, braunen Zimmerschlauch mit abgeklebtem Fenster herrscht noch die Mechanik des 19. Jahrhunderts, und ich wundere mich, daß sich das Licht ohne weiteres anknipsen läßt. Hier saß noch vor ein paar Monaten ein Photograph und zerrte an dem riesigen Weichenhebel, um seinen Delinquenten am anderen Ende des Zimmers ins rechte Licht zu rücken, anschließend die Balkenkamera auszufahren und abzudrücken.
Als ich das Erdgeschoß wiederfinde, entdecke ich endlich auch den Hofzugang. Mitten im quadratischen Innenhof befinden sich vier Käfige - Betonverliese, die nicht überdacht, sondern mit Gittern abgedeckt sind. Quer darüber verläuft ein Gitterrost, auf dem die Wärter spazierengehen konnten. Von unten sieht man nichts als den gesiebten Himmel.
III. Der Stasikomplex Otto-Nuschke-Straße 53-55 umfaßt drei barocke Wohnhäuser zur Straße hin und die Gefängnisumbauung des Innenhofes mit 61 U-Haftzellen, darunter auch einigen Großzellen, so daß die Anlage auf 110 Häftlinge ausgelegt ist. Dazu kommen die Versorgungsräumlichkeiten mit Großküche, Krankenzimmer, Kleiderkammer, Bügelraum, Werkstätten im Keller und einem Zellentrakt für Strafhäftlinge, die in der Knastversorgung zu arbeiten hatten. In den vorderen Gebäuden befand sich die Verwaltung mit den Büros, Verhörräumen, technischen Anlagen und einem großen Sitzungssaal.
„Die Stasi hat sich im Laufe der Jahre durch drei Gebäude hindurchgefressen“, erzählt mir Thomas Wernicke, der sich in seiner Doppelfunktion als Museologe am Potsdam-Museum und Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte im Neuen Forum seit der Auflassung mit der Geschichte und einer Konzeption zur künftigen Nutzung des Komplexes befaßt. „Man muß die Vorderhäuser und den Knast auseinanderhalten. Die Straßenbebauung ist wesentlich älter als die Hofanlage.“
Die Geschichte des Hauses Nr. 54 beginnt, wie so vieles in Potsdam, beim ersten Friedrich Wilhelm, dem Soldatenkönig, der im Zuge einer großangelegten Stadterweiterung in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts in der Lindenstraße ihr Name fiel 200 Jahre später der Umbenennungsmanie der SED zum Opfer und mußte dem des DDR-CDU-Mitbegründers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke weichen ein großes Fünfachsen
haus im holländischen Stil errichten ließ und es 1738 der Stadt schenkte, die es für 100 Taler im Monat an den jeweiligen Kommandanten des Leibregiments vermietete. „Damals war das Große Holländische Haus, das dann Kommandantenhaus hieß, das repräsentativste Gebäude Potsdams nach dem Stadtschloß. Sanssouci wurde ja erst ein Jahrzehnt später gebaut.“ Fast hundert Jahre lang blieb es Wohnsitz des Regimentschefs, bis es 1806 von Napoleon requiriert und als Kleidermagazin und Pferdelazarett genutzt wurde. Nach der Steinschen Städtereform von 1808, die den preußischen Städten zum erstenmal eigene Körperschaften zur Selbstverwaltung zusprach, suchte man in Potsdam nach einem geeigneten Verwaltungsgebäude, und am 20. März 1809 tagte die erste frei gewählte Stadtverordnetenversammlung Potsdams in der Lindenstraße 54. 1817 verzog man ins Rathaus und überließ das Kommandantenhaus dem Potsdamer Stadtgericht, womit die Geschichte der Zellen und Gitter ihren Anfang nimmt, denn das Gericht ließ im Hof ein kleines Gefängnis errichten, ein paar Zellen, die dann im Zuge der erneuten preußischen Machtentfaltung mehrfach erweitert und 1906 zur heutigen Anlage ausgebaut wurden. In den dreißiger Jahren zog das nationalsozialistische Erbgesundheitsgericht ein und verhandelte in den Räumlichkeiten des Amtsgerichts über Zwangssterilisierungen und Rassenhygiene. Schließlich erschien während des Krieges die Gestapo und übernahm die Haftanstalt - als erste der drei großen staatlichen Terrororganisationen, die sich in den nächsten fünfzig Jahren hier Klinke und Schlüssel in die Hand geben sollten.
Am 17. Mai 1945 wurde auf Anordnung der russischen Kommandantur das Potsdamer Stadtgericht an alter Stelle wiedereröffnet, tagte allerdings kaum vier Wochen, dann kam
-im Vorfeld der Potsdamer Konferenz - Stalins Geheimpolizei, der NKWD. Er blieb zehn Jahre. „Eine ganz bittere Zeit“, sagt Thomas Wernicke, „über die man so gut wie nichts weiß. Die Akten sind verschwunden, und bisher herrschte auch von seiten der damals vom NKWD Verschleppten verständlicherweise totales Schweigen. Es sind sowieso nur wenige zurückgekommen, man weiß ja, daß es bei den Russen nur zwei Urteile gab: 25 Jahre oder Todesstrafe.“
1955 übernahm das fünf Jahre zuvor gegründete Ministerium für Staatssicherheit den Komplex und blieb bis zum Dezember 1989. „Im Laufe der Zeit übernahm die Stasi auch die beiden Nebenhäuser. Die 55 gehörte immer schon, und jetzt auch wieder, der Kirche, in der 53 war früher eine Kneipe, dann, bis die Stasi ihre Finger danach ausstreckte, ein Reisebüro.“
IV. Während die Gestapo und der NKWD von hier aus die Deportation ihrer Opfer ins Zuchthaus Brandenburg, in die Vernichtungs
lager oder nach Sibirien in die Wege leiteten, unterzog die Stasi Oppositionelle, Querulanten oder auch bloß „verdächtige Subjekte“ in der Otto-Nuschke-Straße einem ausführlichen Verhör, das in vielen Fällen bis zum psychischen Zusammenbruch oder zur Selbstbezichtigung führte. Jens Möller, frisch gewählter Volkskammerabgeordneter der SPD, saß im Jahre 1983 eine Woche lang in der Otto-Nuschke-Straße, „weil wir damals, von der Kirche aus, auf das Waldsterben im Erzgebirge aufmerksam machen wollten, indem wir ein paar verkrüppelte Fichten neben den offiziellen Weihnachtsbaum aufstellten.“ Das reichte der Stasi für eine eingehende Beschäftigung mit den Kirchenleuten: Verhöre, Befragungen, Einzelzelle, Isolation. „Ich hab keinen Menschen zu Gesicht bekommen, während ich hier saß. Das Rotlichtsystem in den Gängen funktionierte perfekt: wenn eine Zelle aufging, blieben alle anderen zu.“ Jeder Neuzugang wurde, oft tagelang, von wechselnden Stasimitarbeitern - mal war es der Verständnisvolle, dann wieder der scharfe Hund - verhört, und alle Aussagen akribisch, wie man es von einer deutschen Behörde nicht anders erwartet, aufgezeichnet und archiviert.
In einem kleinen Büro im Vorderhaus sitzt ein Mitarbeiter des Bürgerkomitees zur Aktensicherung zwischen einem Haufen altersschwacher Tonbandgeräte und archiviert das Bandmaterial. „In den meisten Fällen handelt es sich um §213 - Republikflucht, oder wie es offiziell hieß: 'unerlaubter Grenzübertritt‘. Wir haben zwei Waschkörbe mit Bändern gefunden, zwei Drittel dürften allerdings gelöscht sein.“ Er spielt mir Ausschnitte aus einem Verhör vor, bei dem ein deutlich eingeschüchterter Mann offen und detailliert erzählt, wie er versucht hat, eine Flugmaschine zu bauen. („Ick hab nen Trabimotor jenommen und det jing natürlich nich. Nen Volvo hätt ick jebraucht, aber det jibts ja nich.“) Die Bänder mit Aussagen politisch Oppositioneller wurden offenbar alle gelöscht. „Wir haben ein bißchen zu langsam reagiert,“ sagt Thomas Wernicke. „Nachdem die Hegelallee gestürmt war, vergingen noch zwei Wochen, bis wir auch hier reinkamen. In zwei Wochen kann man 'ne Menge beiseite schaffen.“ Trotzdem wurden 80 Prozent des Aktenbestandes sichergestellt und dem „Rat der Volkskontrolle“, einem Gremium, das ähnlich wie die örtlichen Runden Tische mit Vertretern der verschiedenen politischen Gruppierungen besetzt ist, übergeben.
V. Während das Haus Otto-Nuschke-Straße 55 wieder von der Kirche genutzt wird, muß man sich in den beiden anderen Flügeln mit Übergangslösungen zufrieden geben. Der Rat der Stadt wird sich hüten, vor den Kommunalwahlen im Mai hier eine bindende Lösung herbeizuführen: harte politische Auseinandersetzungen kämen auf ihn zu, denn die Häuser werden inzwischen von allen linken Parteien und Gruppierungen der neuen Republik - mit Ausnahme der PDS als Geschäftsräumlichkeiten und Kommunikationszentrum genutzt, mit Billigung des Stadtrates. Die alten resopalbezogenen Möbel der Stasi stehen noch allenthalben herum, und von den verblaßten Mustertapeten hebt sich hier und da ein dunkler Fleck ab - die letzten Spuren der legendären Jugendporträts des Staatsratsvorsitzenden E. H. An den Innenseiten mancher Türen hängen noch die kleinen grünen Schildchen mit der - handgemalten! - Aufschrift „Bitte nicht stören“ und dem bedrohlichen Ausrufungszeichen.
Die SPD hat in sechs Räumen des ersten Stockwerks sowohl ihre Kreis- als auch gleich die ganze Bezirksgeschäftsstelle untergebracht. Ein Stockwerk höher residiert die Potsdamer Denkmalpflege. Die Denkmalpfleger legten bereits ein fertiges Konzept zur Nutzung der Gefängnisanlage vor: die Zellentrakte im Erd- und im 1. Obergeschoß sollen von der Denkmalpflege als Archiv und Depot genutzt werden, das 2. Obergeschoß will man dem Museum für Ur- und Frühgeschichte überlassen und im obersten Teil soll eine „Mahnstätte gegen Faschismus und Stalinismus“ eingerichtet werden. Was die beiden verbliebenen Vorderhäuser angeht, so wartet man auch hier auf kommunale Entscheidungen - nach den Wahlen.
Für diesen Fall hat man dagegen im Nebenhaus bereits vollendete Tatsachen zu schaffen versucht: eine unabhängige, den Grünen nahestehende Gruppe betreibt in drei Räumen ein sogenanntes „Info-Cafe“ - mit vollem Erfolg, denn die Kneipe ist der Renner der nächtlichen Potsdamer Szene. Tagsüber wuseln geschäftige Flugblattverteiler zwischen den Stasimöbeln hindurch, Diskussionsgruppen belagern den vorderen Raum, kichernde Teenager kommen sich umgucken, und überarbeitete Politmacher nehmen einen Kaffee im Stehen. Carola Stabe von der Gruppe Argus, einer Bürgerinitiative, die schon lange vor der Wende gegründet wurde und sich vehement für die Erhaltung der Potsdamer Altstadt eingesetzt hat, erläutert: „Uns ist das Gerücht zu Ohren gekommen, daß hier eine Modeboutique reinkommen und das ganze Haus übernehmen soll.“ Argus belegt zusammen mit der Grünen Partei und der Vereinigten Linken den Rest des Hauses und hat großes Interesse daran, den Platz als Kommunikationszentrum für die wachsende Potsdamer Szene zu erhalten. Man hat sich „sicherheitshalber“ einen Telefonanschluß schalten lassen und im Erdgeschoß ein Computerzimmer eingerichtet, zu hapern scheint es lediglich am Mobiliar: auch hier der alte Stasichic.
VI. Das Große Holländische Haus, das Kommandantenhaus, ist längst nicht mehr das, was es mal
war; man hat es malträtiert, ausgebeint, mit Eisen durchschossen, vergittert und anschließend die Innereien mit einer ekligen Schicht grünbrauner Beamtenfarbe überzogen. Quer durch die Hofeinfahrt hat man irgendwann ein mächtiges, zentimeterdickes Eisentor eingelassen, die Aufgänge verblendet und jedes einzelne Fenster mit fingerdicken Gitterstäben für die Ewigkeit gesichert.
Von hier sollte es nicht nur kein Entrinnen geben, hier wollte man auch unter sich bleiben: je rigoroser das Geschäft der Angst betrieben wurde, je weiter man sich vom Bürger entfernte (um ihn um so besser im Blick zu haben), desto perfekter die Abschottung - die Pickelhauben konnten noch beruhigt Parade marschieren, die Nazis sich im Größenwahn suhlen, während der NKWD als Besatzungsmacht bereits hinter den Mauern verschwand und die Stasi zuerst den Gehsteig vor den Gebäuden und schließlich die ganze Straße sperren ließ.
Über dem großen Eingangstor prangt noch die Videokamera, der letzte Schrei in der modernen Überwachungstechnik, an dem auch die Stasi nicht vorbeikam. Daneben hat die neue Belegschaft ein Spruchband mit der Aufschrift „Lindenhotel Haus für alle“ hochgezogen - Lindenhotel hieß die Festung bei den Insassen.
Noch nicht völlig zu Bewußtsein gekommen ist, welch ein historisches Ereignis sich in der Potsdamer Otto-Nuschke -Straße Ende letzten Jahres, zu einer Zeit also, als BRD -Kanzler Kohl von historischer Stunde zu historischer Stunde stolperte, zugetragen hat: die Auflassung und das Umfunktionieren eines deutschen Gefängnisses.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen