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Im Dickicht der Städte

■ Günter Ermlich stellt das Konzept von "Stattreisen e. V." vor: statt Sightseeing-Schnellkurs Stadteroberung mit Anspruch

Im Dickicht der Städte

GÜNTER ERMLICH stellt das Konzept von „Stattreisen e.V.“ vor: statt Sightseeing-Schnellkurs Stadteroberung mit Anspruch.

ir beginnen unsere Stadtrundfahrt am Kurfürstendamm, unserer Propagandastraße. An die ekelhafte Mauer kommen wir noch später...To the left you have the Germany Hall and to the right the radio tower, the little brother of the Eiffel Tower... Hier rechts das Finanzamt Kreuzberg, das 'Institut für moderne Christenverfolgung‘. - Wir Berliner haben eben Spitznamen für alles... Vor uns sehen Sie das Luftbrückendenkmal, das für die Blockade 1948/49 steht, als die Russen versuchten, Berlin fertigzumachen.“

Originalzitate einer klassischen Stadtrundfahrt Anfang der achtziger Jahre, Stationen eines dreistündigen Sightseeing -Schnellkurses in Sachen Berlin. Auf vier Rädern, garantierter Seh-Komfort hinter sonnengeschützten Busfenstern, in bequemen Panoramasesseln, vollklimatisiert.

Diesen touristischen Scheuklappenblick aus der „distanzierten, oft voyeuristischen Reisebusfenster -Perspektive“ wollten einige alternative Stadt-Pfadfinder überwinden. Per pedes machten sich Mitglieder aus der Weddinger Geschichtswerkstatt auf den Weg, die Geschichte ihres eigenen Kiezes zu ergründen. Geschichte von unten erfahrbar zu machen, Alltags- und Sozialgeschichte miteinander zu verbinden, war und ist das Konzept der Geschichtswerkstätten. „Hallo, roter Wedding!“ kam bei ihrer Spurensuche heraus, eine Stadtteilwanderung durch den nördlichen Berliner Arbeiterbezirk. Weil der Rundgang so gut ankam und immer wieder von Jugendgruppen, Auszubildenden und interessierten Kiezbewohnern nachgefragt wurde, gründeten einige Mitglieder der Geschichtswerkstatt 1983 den Verein „Stattreisen e.V.“. Meist Sozialpädagogen oder Historiker in der Endphase des Studiums oder in der Anfangsphase der Arbeitslosigkeit, wollten sie mit den Stadtführungen ihrem Interesse folgen und Geld damit verdienen. Mit einer ABM -Stelle und einem Schreibtisch in einer Privatwohnung ging's los. Es war die Hochzeit der alternativen Unternehmensgründungen. Kollektive wie „Achsenbruch“ oder „Bummelbus“ entstanden, ebenfalls die Projektberatungsgruppe „Stattwerke“ und das „Stattbuch“, Wegweiser durch das andere Berlin. „Stattreisen“: der Name ist Teil des Programms; statt zu reisen soll man sich in Berlin umgucken, und zwar anders als die herkömmlichen Stadtrundfahrten es tun. Die Idee hat sich bewährt. Heute hat „Stattreisen“ einen gut ausgestatteten Laden, 6 feste Mitarbeiter (3 ABM-Stellen davon) und circa 2O freie Honorar-Mitarbeiter.

ustouren vermitteln doch viel zu flüchtige Eindrücke“, erklärt Sabine Zausch von „Stattreisen“, „da wird durch das Mikrophon nur ein Wust von Superlativen aufgezählt, 'das größte Kaufhaus mit den meisten Wurstsorten, 8OO Sorten Salami in der Feinschmeckerabteilung‘ oder der Flughafen Tempelhof als das längste durchgehende Gebäude in Europa.“ Daneben würde immer wieder mit beliebten Volksmundbezeichnungen wie „Schwangere Auster“ und „Wasserklops“ operiert. Die spezifische Geschichte der Stadt bliebe dabei auf der Strecke.

Gegenüber dieser „schneller-höher-weiter„-Philosophie und der zusammenhanglosen, weitgehend geschichtslosen Fakten und Datenhuberei will „Stattreisen“ mithelfen, die Stadt zu dechiffrieren, vorwiegend zu Fuß, aber auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit Fahrrädern, Einblicke zu geben „in die historischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die das Stadtgefüge zusammenhalten oder es auseinanderbrechen ließen“. Nicht die end- und beziehungslose Aufzählung von sog. Sehenswürdigkeiten, die vorzugeben glaubt, eine Stadt in drei Stunden sich reinziehen zu können, ist der Anspruch. Auf einer Stadt-Tour kann man immer nur einen Ausschnitt kennenlernen. Die pädagogische Form dieser anderen Stadt-Erfahrung, wie „Stattreisen“ sie begreift, ist das Konzept des „exemplarischen Lernens“. „Scheinbar belanglos am Wege liegendes Gemäuer kann sich als Schlüssel zum Verständnis städtischer Zusammenhänge erweisen und damit 'sehenswürdig‘ sein. Eine Stadt ist wie ein Puzzle: 'Stattreisen‘ vermittelt das Zusammenfügen der unterschiedlichen zunächst scheinbar unverbundenen - visuellen Eindrücke“ (Selbstdarstellung von „Stattreisen“). Anhand der ehemaligen Kunstgewerbeschule erläutert Sabine Zausch das „exemplarische Lernen“. An diesem Gebäude können die verschiedenen Schichten der Geschichte abgetragen werden. Die Bildhauerwerkstätten der Kunstgewerbeschule wurde 1934 zum Gestapo-Hauptquartier mit Zellengefängnissen „umfunktioniert“. Politische Häftlinge wurden hier interniert, verhört, gefoltert und dann in die KZs verschickt. Nach dem Krieg erinnerte 4O Jahre lang nichts mehr an die Zentrale der Schreibtischtäter: abgerissen und enttrümmert, war über diese ganze Geschichte Gras gewachsen. Erst Mitte der achtziger Jahre wurden archäologische Grabungen unternommen, Grundmauern und Fundamente ausgebuddelt und nach langer, kontroverser Diskussion dort die Ausstellung „Topographie des Terrors“ gezeigt. „Exemplarisch wird hier plastisch“, erläutert Sabine Zausch, „wie die Deutschen mit Geschichte umgegangen sind. Anhand des Umgangs mit diesem Gebäude können wir sichtbar machen, was Giordano 'Die zweite Schuld‘ genannt hat.“

In Ergänzung zu den Geschichtswerkstätten, die primär mittels Spurensuche und -sicherung Alltags- und Sozialgeschichte erforschen wollen, will „Stattreisen“ die gewonnenen Geschichtskenntnisse auf seinen Stadtführungen vermitteln, auch und gerade „abseits der üblichen Touristenpfade“.

a das Marktsegment „Städtetourismus“ im allgemeinen floriert und - nach der Maueröffnung - der Run auf Berlin im besonderen noch dazukommt, hat „Stattreisen“ alle Hände voll zu tun. In der letzten Aprilwoche waren 4O Touren angesagt. „Wir rotieren ganz schön“, stöhnt Sabine Zausch, „um da alles organisatorisch in den Griff zu bekommen.“ Denn mittlerweile stehen ein Dutzend geführte Wanderungen, Berlin -West, Berlin-Ost und Potsdam auf dem Programm. „Grenzgänge“, „Die Kulturmeile“, „Preußen, Paläste und große Politik“, „Die Prenzlauer-Berg-Tour“, „Wege in das jüdische Berlin“ und „Sanssouci aus anderer Sicht“ sind nur einige Titel aus der mittlerweile immer stärker diversifizierten Angebotspalette. Für die Spaziergänge in Ost-Berlin kooperiert „Stattreisen“ mit der Ostberliner Urania und der Sektion Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität; bei den Rundgängen in Potsdam stellen lokale Bürgerinitiativen die kompetenten Stadtführer, die früher im DDR-Idiom „Stadtbilderklärer“ hießen.

Das „Stattreisen„-Konzept hat inzwischen in neun anderen bundesdeutschen Großstädten Nachahmer gefunden, zum Beispiel „Geschichte für alle“ in Nürnberg, „StattReisen Köln“ oder „Tour de Ruhr“ in Bochum. Die lokalen Initiativen haben sich zum „Arbeitskreis Neue Städtetouren“ zusammengeschlossen. Sie wollen damit ihre Aktivitäten koordinieren, theoretische und praktische Grundlagen der „Statt-Erkundung“ erarbeiten, u.a. gemeinsame Fortbildungsprogramme durchführen („Faschistische Architektur - gibt es das überhaupt und wie präsentiert man es?“).

er urbane Raum als Erfahrungs- und Erlebnisraum, als großes Open-air-Museum der Geschichte und Gegenwart. Eine spannende Geschichte. Dennoch ist Sabine Zausch, Historikerin im zweiten ABM-Jahr bei „Stattreisen“ in Berlin, unzufrieden: „Mir stinkt es, immer nur am Schreibtisch zu sitzen, Programme für Gruppen zu machen und neue Mitarbeiter einzuarbeiten. Die ganze Arbeit geht für die Organisation drauf.“ Auf der Strecke bleibt für sie das eigentliche Anliegen, eine Gruppe zu Fuß durch das sichtbare und verborgene Dickicht der Städte zu führen, das kommunikative Gruppenerlebnis, „wo man Zeit hat, sich zu unterhalten, zu diskutieren, Rückfragen zu stellen“. Aber das ist der Preis des „Stattreisen„-Erfolgs und damit der Professionalisierung: Vom alternativen Outdoor-Stadterkunder zum Indoor-Organisationsmanager. „Dabei wäre es doch so wichtig“, sagt Sabine Zausch, „jetzt, nach der Maueröffnung, beispielsweise die Stadtspiele für Schüler, die mit Fragebogen und Kleinbildkamera auf Entdeckungstour gehen, auf den neuesten Stand zu bringen.“

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