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Das Dilemma des Sieges

Mit dem SPD-Doppelsieg beginnen erst die Schwierigkeiten  ■ E S S A Y

Die Entdeckung der Langsamkeit nun auch in der Deutschlandpolitik - das ist ein Ergebnis des SPD -Doppelerfolges. Eine latente Mehrheit, die sich von der Politik der abgefahrenen Züge überfahren sah, hat dem einsamen Tempomacher im Bundeskanzleramt eine verheerende Niederlage beigebracht. Denn das Tempo der Vereinigung ist der eigentliche Inhalt der Bonner Vereinigungspolitik gewesen. Das Tempo selbst, mythisch aus dem Imperativ der Geschichte und praktisch aus den Sehnsuchtsblicken der Übersiedlerströme begründet, mußte alles legitimieren: den Primat der Exekutive vor dem Parlament, den Primat der Währungsunion vor den anderen Unionen, den Primat der Bonner Ministerialbürokratie vor der Verfassung. Kohl hatte das Tempo der Einigung zur Chefsache gemacht; insofern trifft ihn fast ausschließlich die Verantwortung für die Niederlage bei den Landtagswahlen. Dabei ist die Dramatik der Niederlage nicht aus den absoluten Zahlen der Wählerbilanz abzulesen. Da hat es eine ganz undramatische Wiederkehr des Wählertrends vom Sommer 1989 gegeben. Doch gemessen an der Wahlfrage, an der demagogischen Alternative Einheit oder Sozialismus, hat diese Wiederkehr fast den Charakter eines Plebiszits gegen die CDU-Deutschlandpolitik seit dem Januar 1990. Wenn Rau und Schröder gleich nach der Wahl eine deutsch-deutsche Politik der Verlangsamung versprachen, haben sie das Wahlergebnis durchaus richtig gedeutet. Aber gleichzeitig wurde deutlich, daß die SPD dabei kaum die politische Führung, bestenfalls die Stimmungsführerschaft beanspruchen kann.

Die latente Angst vor den Konsequenzen der schnellen Einheit hat der SPD den Sieg beschert; eine Politik wurde nicht honoriert, einfach weil sie fehlt. Es ist der merkwürdige Fall eingetreten, daß die Wähler aus Unsicherheit für den Vorrang der Demokratie vor der Einheit, aus ganz materiellen Ängsten für die Opposition votiert haben. Bis zum Wahltag hat die SPD diese Ressentiments eher in der Formel von der „sozialen Gerechtigkeit“ versteckt, statt ernsthaft Opposition gegen das Tempo zumachen. Die „soziale Gerechtigkeit“ war ein Formel der Defensive für die Mehrheit der Übergangenen und kein aktives Prinzip, von dem her eine grundsätzliche Alternative zum schnellen Staatsvertrag entwickelt wurde. Mit dieser bequemen Opposition des Ressentiments ist es vorbei. Im Besitz der Bundesratsmehrheit kann die SPD und Lafontaine nicht mehr nur den Rechnungsprüfer der deutschen Vereinigung spielen. Sie kann nicht insinuieren, daß die Vereinigung zu Steuererhöhungen führen wird, sie muß sagen, welche Steuererhöhungen sie für realistisch hält. Sie kann nicht für Verlangsamung plädieren, sondern muß das langsamere Tempo und das Ziel benennen. Konkret: sie muß sehr schnell klarlegen, ob sie den Staatsvertrag, der ja nichts anderes ist als der totale Bruch des DDR-Rechts durchs Bundesrecht mit sozial- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen, die jetzt erst im Ansatz durchgerechnet werden, in dieser Form will oder ob die Verhandlungen neu aufgerollt werden müssen. Die Serie der Nachverhandlungswünsche zeigt ja, daß hier ein klassischer Fall der einseitigen Verträge aus der Kolonialgeschichte des 19.Jahrhunderts vorliegt. Die SPD muß sich vor allem zum Datum der Währungsunion, zum 2. Juli zu erklären, um daß sich alle deutsch-deutschen Fragen, vom Überleben der DDR-Firmen bis zur Verfassungsfrage drehen.

Kein Wunder, daß das Frohlocken über den Sieg bei der SPD gedämpft ausfällt. In allen diesen Fragen gibt es kaum eine ausreichende Auseinandersetzung innerhalb der Partei, geschweige denn einen klaren Konsens zu klaren Alternativen. Zudem: diese latente Mehrheit des Ressentiments garantiert der SPD nichts. De Maziere formulierte in seiner Regierungserklärung völlig zu Recht, die „Aufhebung der Teilung fordert Teilen“. Eine realistischere, soziale gerechtere, weniger forcierte Einigungspolitik wird die SPD sehr schnell in den Gegensatz zu jenem Egoismus bringen, dem sie den Doppelsieg verdankt.

Auch wenn jetzt der Wähler hilfsweise für mehr Demokratie in Sachen deutscher Vereinigung optiert hat, ist die antidemokratische - das heißt: demagogische - Disposition der deutschen Innenpolitik unübersehbar. Kohls Politik des Tempos ist zwar gescheitert. Aber er hatte und hat keine Alternative. Er wird sie fortsetzen, weil jeder Zeitgewinn die CDU in der DDR schwächt und der gesamtdeutschen SPD nützt. Das Tempomachen selbst war ja ein verpuppte Form des Nationalismus. Sie hat sich in dieser Form nicht ausgezahlt. Nicht weil, wie Verena Krieger meinte, „Patriotismus nicht satt“ mache. Er macht die Hungrigen sehr wohl satt, aber er überzeugt die Satten nicht vom Konsumverzicht. Aber was wird die CDU hindern, die latente Partei der bundesdeutschen Wohlstandsrassisten für sich zu gewinnen? Was hat sie dafür in der Hand? Eine Menge: sie kann einen Knebelvertrag anbieten. Sie kann ein Konzept der deutschen Einigung vorweisen, wo die DDR-Rentner, die volkseigenen Betriebe, die DDR-Haushalte die Hauptlasten des Wirtschaftsgefälles tragen müssen. Was sollte die CDU hindern, die Politik der Suprematie gegenüber der DDR zur nationalen Politik zu erheben? Die DDR-Wahlen sind gewonnen. Ein Verlierer der Bundestagswahl hat auch in einer gesamtdeutschen Wahl, auch bei der DDR-Bevölkerung keine Chance. Ein wirkliche Verlangsamung der deutsch-deutschen Vereinigung, eine wirkliche Politik der „sozialen Gerechtigkeit“ muß auch die bundesrepublikanische SPD an die Interessen der DDR-Bevölkerung heranführen. Ein Dilemma: deutschlandpolitische Unklarheiten kann sich die SPD nicht mehr leisten. Und die Klarheit kann die Mehrheit des Ressentiments zerstören.

Im puren Streit um den Steuerkuchen jedenfalls kann die SPD kaum gewinnen, kaum das Dilemma auflösen. Der einzig denkbare Weg ist, die Stimmungsoption für die Demokratie zu einer wirklichen Politik zu machen. Die Chance der SPD läge also in der Emanzipation des Volkssouveräns gegenüber der Bonner Tempomacherei. Da die Vereinigung jeden betrifft, bis hin zur materiellen Sicherheit, ist nicht an Ängste zu erinnern, sondern an die Verpflichtung, daß die deutsche Einigung die Sache der Deutschen sein muß. Nicht ein vages Spiel mit der „sozialen Gerechtigkeit“ ist das Gebot der Stunde, sondern die Erinnerung an die Aufgabe, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben. Nur dieser Weg führt das Desiderat der „sozialen Gerechtigkeit“ aus dem drohenden Gezeter um den deutsch-deutschen Geldbeutel.

Klaus Hartung

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