piwik no script img

Versuch der absoluten Vernichtung

„Shoah„-Regisseur Claude Lanzmann über Antisemitismus in Frankreich  ■ D O K U M E N T A T I O N

Was bedeutet die Friedhofsschändung von Carpentras für Sie?

Claude Lanzmann: Sie markiert einen Abschnitt, einen qualitativen Sprung in der jüngsten und der nicht -endenwollenden Geschichte des Antisemitismus. In Frankreich und Deutschland hat es schon andere Schändungen von Friedhöfen gegeben, weil Antisemiten gewöhnt sind, sich an die Stätten des Todes zu halten, wo sie keine Strafe zu fürchten glauben. Aber in Carpentras wurden Särge geöffnet, wurde die Leiche eines alten Mannes gepfählt. In dieser üblen Inszenierung liegt eine enorme Symbolik, deren sich die Täter, glaube ich, sehr bewußt waren. Es ist eine Weise, die Toten noch einmal zu töten, aus Wut, die Lebendigen nicht umbringen zu können. Ein Versuch der absoluten Vernichtung und eine Art zu sagen, daß diese Menschen niemals existiert haben, indem jegliche Spur von ihrer Zeit auf Erden getilgt wird. Die Nazis handelten in den Vernichtungslagern genauso, als sie die Massengräber öffnen ließen, um die Leichname zu verbrennen, die sie vorher dort vergraben hatten.

Ist dies Ausdruck einer neuen antisemitischen Welle in Frankreich oder handelt es sich um einen isolierten Akt?

Auch wenn dieser Fall meines Wissens der erste seiner Art ist, steht er in Zusammenhang mit einem sehr komplexen, schwer zu analysierenden Prozeß, für den es keine einfachen und eindeutigen Gründe gibt. Der Haß gegen die Juden ist etwas tief Inneres und Verwurzeltes, das jetzt die Gelegenheit sucht und findet, sich neu zu manifestieren. Was hier passiert, entzieht sich dem Politischen, bewegt sich auf einem ganz anderen Feld, in einer anderen Tiefe.

Gibt es zur Zeit ein Klima, das den Antisemitismus fördert?

Die Profis des Wortes müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Oft legen sie eine große Unbekümmertheit an den Tag. Als ich neulich im Fernsehen die bekannte Sendung „Stunde der Wahrheit“ mit Le Pen sah, war ich verblüfft über die Art und Weise, wie die Journalisten mit der jüdischen Frage umgingen. Es war eine Art Spiel, ein kumpelhaftes und sehr frivoles Spektakel. Schlimm wird es, wenn man sich nicht mehr darüber im Klaren ist, daß Antisemitismus nicht eine bloße Meinung, sondern ein Verbrechen ist. Jetzt, nach einer langen Zeit der Existenz im Untergrund, ist der Antisemitismus wieder eine Meinung wie alle anderen geworden, hat Bürgerrecht und darf sich frei entwickeln.

Sind Sie für die Zukunft pessimistisch?

Die Friedhofsschändung von Carpentras ist ein Akt der Hexerei, und der Zauberlehrlinge sind sehr viele. Man muß durch Erziehung, durch Information dagegen ankämpfen. Der Antisemitismus ist nicht automatisch am 8. Mai 1945 verschwunden. Wir haben geglaubt, daß der Schrecken der Vernichtung der europäischen Juden so stark wäre, ihn für immer zu bannen. Natürlich hat die gegenwärtige Situation in Frankreichs nichts von dem Deutschland der Vor-Hitler-Zeit. Aber vielleicht trägt sie etwas Anderes, gleichfalls Ungeheuerliches, in sich. Carpentras zeugt davon. Für mich ist eine der tiefen Bedeutungen dieses Ereignisses die folgende: Der Holocaust war nicht zuallererst ein Massaker an Unschuldigen. Zunächst war er ein Massaker an Wehrlosen. Die Antisemiten, die den Tod der Juden suchen, wollen letztlich einen wehrlosen Juden. Und was wäre wehrloser als ein Toter? Aus: 'Le Figaro‘, 12./13. Mai 199

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen